„Sonst werden sich diese Kinder rächen“

Helena Päßler kämpft für eine bessere Schule

Geboren: 11. Juli 1953 in Teplice/Tschechien. Beruf: Seit zehn Jahren Rektorin der Heinrich-von-Kleist Haupt- und Realschule Wiesbaden. Weg: Mit zwölf Jahren von Tschechien nach Hessen ausgewandert. Realschule, später Gymnasium in Wiesbaden. Lehramtsstudium in Mainz, Fächer: Deutsch und Geographie. Nach dem Studium Volkshochschuldozentin und Sekretärin, dann Lehrerstellen. Ab 1992 an der Heinrich-von-Kleist-Schule. Ihre Schule: 1910 als Knabenschule gegründet, später Hauptschule. Stand vor der Schließung. Seit 2005 neues Modell, Haupt- und Realschüler gemeinsam zu unterrichten. 2007 Hauptschulpreis Hessen. Familie: 25 Jahre alter Sohn, Zwillingsschwester, die in den USA lebt. Ziele: 1. Kein Kind verloren geben. 2. Die Schule zu einer „Schule für alle“ umbauen. Zum taz-Gespräch traf Bildungsredakteur Christian Füller Helena Päßler in ihrer Schule, in der sie ihm während des Interviews ihre Lieblingsorte zeigte.

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER -
FOTO STEPHAN MORGENSTERN

Helena Päßler hasst ihre Hauptschule, weil sie findet, dass sie Ungerechtigkeit schafft. Aber die Rektorin liebt ihre Schüler. Deswegen lässt die gebürtige Tschechin ihre Hauptschule in Wiesbaden nicht sterben – sondern krempelt sie komplett um. 2008 will sie eine „Schule für alle“ daraus machen

taz: Frau Päßler, was machen Sie an Ihrer Schule anders?

Helena Päßler: Wir kämpfen.

Wogegen?

Dagegen, dass unsere Schule und vor allem unsere Schüler unter das Stigma „Hauptschule“ gestellt werden.

Wie sieht die Stigmatisierung aus?

Selbst Ausländer haben gesagt: „Kleistschule nix gut, Kleistschule zu viele Ausländer.“ Die Schule drohte geschlossen zu werden. Als wir mit dem Rücken zur Wand standen, wusste ich, es muss sich sofort etwas ändern. Also haben wir ein neues Modell entwickelt, in dem wir Haupt- und Realschüler gemeinsam unterrichten. Das läuft seit drei Jahren. Aber, können wir das nicht woanders besprechen als im Rektorat?

Sie mögen Ihr Rektorenzimmer nicht, Frau Päßler?

Doch, aber hier bin ich ganz allein mit dem Verwaltungskram, hier sind keine Schüler und kein Leben.

Wo sollen wir hin? Was ist Ihr Lieblingsort in der Schule?

Wenn ich Ihnen das sage, erklären Sie mich für verrückt.

Nein, warum? Sagen Sie es ruhig.

Wir gehen erstmal in die achte Klasse, die ist gleich hier oben, dann schauen wir uns eine siebte Klasse an. Das war unser erster Jahrgang, in dem das neue Lernmodell startete. Die stecken gerade mitten in einem Projekt über Ägypten, über die Römer und Griechen.

Das ist Ihr Lieblingsplätzchen?

Ja, auch. Lacht, macht eine Pause. Ich kann das nicht sagen, Sie finden das bestimmt lächerlich.

Kommen Sie! Wo gefällt es Ihnen am besten?

In unserer Küche.

In der Küche? Weil es dort etwas zu essen gibt?

Das ist vielleicht auch ein Grund.

Helena Päßler steht auf und geht auf den Flur vor dem Lehrerzimmer. Sie begegnet der Lehrerin Larissa Schmitz.

Darf ich Ihnen Frau Schmitz vorstellen, das ist eine Kollegin aus Russland.

Sie betreuen die russischen Kinder?

Larissa Schmitz: Ich bin Klassenlehrerin und habe tatsächlich viele Kinder aus den ehemaligen UdSSR-Gebieten. Aber das ist Zufall, es hat sich halt so ergeben.

Gibt es hier viele russlanddeutsche Aussiedler?

Helena Päßler: Zehn Prozent der 500 Schüler kommen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.

Und für diese Schüler braucht man spezielle Lehrer?

Larissa Schmitz: Das ist ein Vorurteil. Es sind nicht speziell die Kinder aus Russland, die Probleme bereiten. Es sind die Kinder, die keine Anerkennung finden. Sie glauben, dass keiner sie mag.

Helena Päßler: Das Problem haben viele Flüchtlinge und Kinder aus anderen Ländern. Bei den Russlanddeutschen ist es besonders stark. Dort waren sie die Faschisten, die Deutschen. Jetzt kommen sie hierher und sind die Russen. Was für ein Selbstbewusstsein sollen sie da entwickeln?

Was können Sie dagegen machen?

Larissa Schmitz: Wir geben ihnen Anerkennung. Ich kenne das Lebensgefühl der Russlanddeutschen und auch die Gepflogenheiten. Wenn mir eine Mutter die Hand nicht gibt, dann weiß ich, es hat nichts zu bedeuten, weil das in Russland unüblich ist. Aus solchen Kleinigkeiten besteht das ganze Leben.

Warum ist es Ihnen wichtig, internationale Lehrerinnen zu haben?

Helena Päßler: Sie können besser nachempfinden, wie es zugewanderten Kindern geht, als ein Kollege, der hier geboren ist. Ich habe es ja auch mitgemacht.

Man hat Sie diskriminiert?

Das wäre zu viel gesagt. Als ich mein Referendariat beendet hatte, sagte mein Seminarleiter zu mir. „Frau Päßler, Sie sollten mal zum Logopäden gehen“.

Hatten Sie Sprachfehler?

Nein, ihn hat meine tschechisch-böhmische Aussprache gestört. „Die Schüler lernen dann nicht Schule, sondern Schulä“, sagte der. Beim Logopäden...

... Sie sind wirklich hingegangen?

Na, er hat es mir dringend empfohlen. Ich habe deswegen keine Eins, sondern nur eine Zwei bekommen. Also beim Logopäden hat man mich gefragt, was ich denn wolle.

Sind die deutschen Kollegen heute noch so zu den Flüchtlingskindern?

Nein, selbstverständlich nicht, sie gehen mit den Kinder fantastisch um. Nur können Sie sich manchmal nicht vorstellen, wie es ist, wenn man von weit her kommt.

Wie viele Einwandererkinder haben Sie?

Wir haben 85,5 Prozent Schüler mit Migrationshintergrund. Schüler aus 44 Nationen, es gibt ungefähr zehn verschiedene Formen von Aufenthalts- und Duldungsgenehmigungen.

Woher kommen sie?

Von überall her. Es gibt viele Türken und Marokkaner und sehr viele Schüler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Es waren Kinder aus Afghanistan, Pakistan und Vietnam dabei, jetzt kommt Nepal, China kommt, die Karibik ist vertreten.

Larissa Schmitz verabschiedet sich. Helena Päßler führt weiter durch die Schule.

Anerkennung zu zeigen, läuft das ausschließlich über Kleinigkeiten?

Nein, wir bieten Kurse für Sprachen der Herkunftsländer an, zum Beispiel Türkisch, Russisch und andere Sprachen. Den Unterricht in den Muttersprachen hatte das Land Hessen abgeschafft. Uns fällt aber auf, dass er für das Selbstbewusstsein und auch das Sprachgefühl mancher Kinder wichtig ist. Viele haben keinen Halt mehr, weil sie weder die eine noch die andere Sprache können. Also, das ist unsere Lehrküche. Hier können an vier Stellen jeweils vier Schüler das Kochen lernen.

Warum mögen Sie diesen Ort?

Ich lerne hier immer etwas, es riecht gut. Ich komme aus Böhmen, da isst man sehr gerne. Aber das ist nur der leckere Teil...

...es gibt auch einen pädagogischen Grund?

Es ist ein völlig neues Projekt. Wir haben eine Hauswirtschaftsmeisterin, einen Profi, der nicht nur gut kochen kann, sondern die Befähigung hat, Lehrlinge auszubilden.

Ihre Schule hat Auszubildende?

Wir mussten lange ackern, wir wussten nicht, wie wir Frau Westerfeld anbinden sollen. Aber inzwischen ist es soweit, dass wir mit Partnern zusammen vier Schülerinnen Lehrstellen anbieten können und einer Praktikantin ein Berufsvorbereitungsjahr.

Übernehmen Sie sich da als Schule nicht?

Nein, ich würde es sogar gerne auf andere Gewerke ausweiten, Holz, Metall, Malerarbeiten. Hier gewinnen Schüler eine andere Art der Anerkennung. Hier finden sie eine andere Ausdrucksform.

Warum ist das so wichtig?

Die Hauswirtschaftsmeisterin Cornelia Westerfeld ist dazugetreten.

Cornelia Westerfeld: Bei uns gelingt vieles, was im Klassenzimmer nicht gehen würde. Ich habe gerade einen Schüler einmal in der Woche für einen Tag, dem es nicht gut geht. Ich erfahre von diesem Jungen mehr über seine persönlichen Probleme als es in der Hektik des Unterrichtsalltags möglich wäre.

Helena Päßler: Sie fühlen sich geborgen. Unten die Schulsozialarbeit, oben die Küche. Wir haben sogar gemerkt, dass es Schüler gibt, die manchmal gar nicht nach Hause gehen wollen.

Weil es hier so gemütlich ist...

... oder zu Hause so schwierig. Manche Schüler sind so arm. Das ist das Problem meiner Schule, die Armut.

Armut?

Ich habe immer mehr Eltern, die vor mir sitzen und sagen: „Frau Päßler, ich kann das Schulessen nicht bezahlen.“ Oder: „Das Geld reicht nicht mehr für Arbeitshefte.“ Wir haben so viele Formen von Erziehungsberechtigung an dieser Schule. Aber wir haben auch Kinder, die sind praktisch für Ihre Eltern erziehungsberechtigt. Weil Eltern krank sind, weil Eltern arbeitslos sind, weil Eltern die deutsche Sprache nicht beherrschen, weil Eltern Alkoholiker sind, weil Eltern sich in dieser Welt nicht mehr zurecht finden.

Es entsteht eine Pause. Die Rektorin ringt um Luft.

Ich habe einen Schüler, der war eine Woche lang verschwunden. Er war bei seiner Mutter im Krankenhaus, um ihr zu erklären, was der Arzt von ihr möchte. Es ist völlig normal, dass unsere Schüler ihre Eltern aufs Sozialamt begleiten. Dass sie ihren Eltern den Abschiebebescheid übersetzen müssen.

Lange Pause.

Alles das wird auf dem Rücken unserer Schüler ausgetragen. Das macht mich traurig. Manchmal empfinde ich auch riesige Wut.

Was verabscheuen Sie?

Dass es dieses Schulsystem immer noch gibt, das alle Probleme in eine Schulform steckt.

Geht es nicht eher darum, dass dieses Viertel arm ist?

Das Einzugsgebiet ist das Wiesbadener Westend, keine reiche Gegend. Aber erst das Schulsystem verschärft die Lage ins Untragbare. Der bessere Teil geht weg auf die Gymnasien. Die anderen wollen ihre Kinder oft nicht in eine der Gesamtschulen in den Außenbezirken bringen.

Die bildungsfernen Schichten?

Bitte benutzen Sie dieses Wort nicht! Es macht mich wütend. Bildungsferne Schichten, wer hat sie denn dazu gemacht? Die Kinder kommen gerne in die Schule, weil es ihnen gefällt und weil sie etwas lernen möchten. Ich sehe das jeden Tag. Bildungsfern klingt aber so, als seien diese Kinder dumm geboren. Man sagt damit: „Die wollen nicht“. Man muss ihnen die Chance geben zu lernen.

Die bekommen sie nicht?

Alle Kinder haben ein Recht auf Bildung. Nur ist das im gegliederten Schulsystem nicht gegeben. Wenn wir die Kinder in Hauptschulen stecken, so wie sie heute nunmal sind, dann riskieren wir, die Kriminellen von morgen zu produzieren. Diese Kinder werden sich an der Gesellschaft rächen.

Weil sie nicht anerkannt werden?

„Ihr seid Hauptschüler, ihr bleibt Hauptschüler, wir brauchen euch nicht“' – das ist die Botschaft. Was bewirkt das in den Köpfen, in den Seelen der Kinder? Was macht man da alles kaputt?

Warum haben Sie diese Hauptschule nicht einfach kaputt gehen lassen?

Weil ich das schon mal erlebt habe. Die erste Schule, an der ich war, die Kollwitzschule, die heutige Integrierte Gesamtschule Kastellstraße, wurde geschlossen – wegen zu hohen Ausländeranteils. Die Schüler wurden irgendwo hin verteilt, und es gab für sie keine respektvolle Alternative. Man hat Sie wieder in eine Hauptschule gesteckt. Das ist sinnlos.

Was muss passieren?

Wissen Sie, es wäre die Pflicht des Staates, das zu verhindern. In Deutschland aber organisiert der Staat die Benachteiligung. Und die Gesellschaft schaut zu.

Sind Sie Lehrerin geworden, um gegen dieses Unrecht anzurennen?

Überhaupt nicht. Ich hatte in der Tschechischen Republik, wo ich geboren bin, eine Klassenlehrerin, die hat mit uns alles gemacht. Einen Garten angelegt, gebastelt, mit uns gelernt. Wir gingen gerne in diese Schule. Sie hat uns ohne kommunistische Ideologie unterrichtet. Sie hat uns angenommen, wie wir waren. Das ist mir im Kopf geblieben.

Wegen dieses glücklichen Moments sind sie Lehrerin geworden?

Nein, nicht aus Überzeugung. Ich wollte Dolmetscherin werden. In Mainz habe ich Slawistik studiert. „Was willste denn mit Slawistik!“, fragten mich meine Freunde. Es herrschte Kalter Krieg, und ich lernte Russisch. Dann wurden Lehrer gesucht.

Warum sind Ihre Eltern aus Tschechien weg?

Meine Mutter war Deutsche, wir kamen 1965 nach Deutschland. Mein Großvater war der Gründer der Sozialdemokratie in Böhmen. Meinen Onkel haben Kommunisten erschossen, weil er Sozialdemokrat war. Wir sind eine Kämpferfamilie. Wir akzeptieren Ungerechtigkeit nicht.

Wie schaffen Sie es, jeden Tag in ein System zu gehen, das Sie ablehnen?

Nein, nein, man muss, man muss. Wenn ich mich jetzt entziehen würde, da würde ich doch gar nichts bewegen. Ich könnte nicht nach Hause gehen und mich auf meine Terrasse setzen.

Würden Sie wieder Lehrerin werden?

Ja, nein. Ich kann die Frage so gar nicht beantworten. Ja, weil ich das Gefühl habe, etwas verändern zu können. Aber mir reicht es nicht, das geht mir alles viel zu langsam.

Wie halten Sie das aus?

Ich komme doch gerne hierher! Meine Familie hilft mir, mein Sohn, meine Mutter und meine Zwillingsschwester. Das wichtigste ist für mich, wenn ich sehe, dass die Schüler glücklich sind, dass sie bei ihren Lehrern spüren, etwas leisten zu können.

Helena Päßler bricht auf Richtung Projektuntericht siebte und neunte Klassen.

Frau Päßler, alle Leute sagen, dass Hauptschule nicht mehr geht. Wieso hat Ihre dann 2007 den Hauptschulpreis gewonnen?

Ich möchte sie nicht mehr Hauptschule nennen. Wichtig ist uns, dass kein Kind verloren gehen soll.

Ein baumlanger schwarzer Schüler, zwei Köpfe größer als die Schulleiterin, und ein Türke kommen die Treppen herunter: Hallo, Frau Päßler. Päßler: Hallo, wie läuft euer Projekt? Schüler: Wir müssen nur noch die Präsentation fertig machen. Päßler: Strengt Euch an, ich will am Montag was Tolles sehen!

Aber ist das Schulsystem nicht darauf angelegt, die Schlechten auszusortieren?

Ich mag das System nicht. Aber da sind Kinder drin, die haben sonst keine Chance. Für die muss man etwas machen!

Was kann man denn machen?

Man muss beides tun: Das System verändern – und den Unterricht. Man darf kein Kind aufgeben. Das geht, wenn man die Schüler annimmt und wenn man in der Klasse ein anderes, individuelles Lernen praktiziert.

Nehmen das die Realschuleltern an? Die wollen doch ihre Kinder auf keinen Fall mit Hauptschülern in einer Klasse sehen?

Die Kinder arbeiten in dieser Unterrichtsform eindeutig mehr. Die Eltern merken das. Es wird nicht mehr frontal unterrichtet, sondern im Team, zum Teil mit zwei Kolleginnen. So können die Schüler nicht mehr auf Durchzug stellen. Jeder hat eine konkrete Aufgabe, da kann keiner mehr durchrutschen. Die meisten Eltern wählen uns ganz bewusst. Wir müssen inzwischen Kinder ablehnen, weil nicht genug Platz ist.

Was passiert mit dem Schulsystem?

Ich weiß es nicht, es knirscht ja schon überall. Manchmal habe ich den Traum, dass wir zu den Schülern der Grundschule nebenan sagen: 'Ihr könnt einfach hier bleiben.' Dann machen wir Schule für alle. Gleichzeitig würde eine Anordnung erlassen, dass niemand mehr durchfallen darf, nirgendwo. Stellen Sie sich das mal vor, an jeder Schule würde Sitzenbleiben abgeschafft. Und es gäbe für jedes Kind genügend Lehrer und Helfer, die sich kümmern, die Kinder nicht mehr abschieben können, vom Gymnasium zur Realschule, von der Realschule zur Hauptschule oder sogar in die Förderschule.

Was ist dann?

Dann stellen wir den Antrag, eine Gemeinschaftsschule zu werden, eine Schule für alle, die anders unterrichtet. Damit das alles seine Richtigkeit hat.