Hausherrin im Romangebäude

Radikales Emanzipationsverlangen: Elfriede Jelineks neuen Roman „Neid“ kann man nur im Internet lesen

VON JÖRG SUNDERMEIER

Es ist gar nicht schwer, die Werke Elfriede Jelineks zu lesen. Man muss allerdings lesen wollen. Weil trotzdem eine Unmenge von Unwilligen die Rezeption dieser Werke in den Feuilletons bestimmen, ein paar Gemeinplätze vorab: Elfriede Jelinek ist seit ihrem ersten Buch der Moderne und der Postmoderne verpflichtet, wer „klassisches Erzählen“ will, soll Fontane lesen, nicht Jelinek. Jelinek ist Feministin, nicht aber Biologistin, sie ist ernüchterte Sozialistin, sie kann zwischen politischem Aufsatz und Kunst unterscheiden. Die Nobelpreisträgerin leidet seit einigen Jahren unter Angstzuständen, wie sie mehrfach eingeräumt hat. Das alles sagt allerdings nichts über ihr Schreiben aus.

Und auch das ist bekannt: Seit einigen Jahren publiziert die Autorin ihre Texte zunächst auf ihrer Homepage. So auch seit dem 3. März 2007 einen „Privatromans“ unter dem Titel „Neid“, der jetzt abgeschlossen vorliegt und nie als gedrucktes Buch erscheinen soll. In „Neid“ sagt die Ich-Erzählerin, eine Autorenfigur mit den Initialen „E. J.“, sie habe nun ihren eigenen Verlag.

Nach „Lust“ und „Gier“ ist „Neid“ die dritte Todsünde, mit der sich Jelinek beschäftigt. Man hat zu Recht festgestellt, dass sich in dem Roman all jene Motive wiederfinden, die Jelineks Werk prägen: die verlassene Frau, der Fremdenverkehr, die Natur und das schuldbeladene Österreich. Das stimmt, doch findet sich in „Neid“ noch viel mehr – die Geschichte nämlich, die „E. J.“ erzählen will, soll oder muss, die kann oder mag sie nicht erzählen. In den rund 900 Romanseiten finden sich Abschweifungen noch und noch. So berichtet „E. J.“ von ihren Eltern, spricht über Paris Hilton und den österreichischen Finanzminister, kommentiert einen Artikel in der SZ oder wirft gleich ganz die Story über Bord und schafft sich eine neue an, die von „N.“ und „P.“, hinter denen man schnell Natascha Kampusch und ihren Entführer entdecken kann. Die Publikationsweise erlaubt Jelinek zudem, auf aktuelle Ereignisse zu reagieren, sodass in einem Kapitel, das bereits am 28. August 2007 publiziert wurde, eine Seite 64 a eingefügt werden kann, auf der auch auf Amstetten eingegangen wird.

Die Keller von Amstetten und jener, in dem Natascha Kampusch eingesperrt wurde, sowie die zugehörigen ordungsliebenden Täter sind Wasser auf die Mühlen dieser Autorin, die seit vierzig Jahren gegen jenes Österreich anschreibt, das sich angesichts der Taten nicht um die Opfer, sondern nur um seinen guten Ruf sorgt. Doch Jelinek ist weder die „Regionalautorin“, als die sie geschmäht wurde, noch fixiert auf belletristische Texte, die verkappte Pamphlete sein sollen.

Nein, die Nobelpreisträgerin wagt mit „Neid“ ein radikales Experiment, indem sie eine – wie man am Ende des Romans, in dem es sogar einen Mord gibt, zu schätzen weiß – durchkomponierte Story hinreichend andeutet, gleichzeitig aber, wie es sich für einen modernen Roman gehört, ihre Ästhetik erläutert. Die autofiktionale Figur „E. J.“ (einmal allerdings stehen diese Initialen für Ernst Jünger) setzt sich mit allem auseinander, was die Öffentlichkeit über Elfriede Jelinek weiß, gibt nicht ein bisschen mehr preis, obschon es anscheinend nur autistisch zugeht – so wird „E. J.“ selbst zu einer „Paris Hilton“, zu einer öffentlichen Figur, über die geklatscht und getratscht wird. Nur dass hier „E. J.“ selbstbestimmt über „E. J.“ tratscht. Zugleich pariert sie wieder und wieder den Vorwurf, sie könne gar nicht erzählen, ihre Figuren seien nicht rund, und das, was sie in ihren zugespitzten Darstellungen beschreibe, sei nicht „wahr“ – was angesichts der realen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in Österreich eh absurd ist.

Sie pariert diese Vorwürfe, indem sie sie aufnimmt, durchspielt, widerlegt und gleichzeitig scheinbar bestätigt, indem sie sich immer wieder den vernichtenden Urteilen unterordnet. Zwar sei sie oft ausgezeichnet worden, merkt „E. J.“ an, aber sie sei sicher über Gebühr ausgezeichnet. Doch dieser „Privatroman“ sei „privat“. Sie macht sich also selbst zur Hausherrin ihres Romangebäudes, kein Lektor, keine Marketingabteilung, kein Käuferunmut kann ihr zusetzen, das Buch ist nicht käuflich, in keiner Hinsicht. Und auch vor der Kritik sucht sie sich zu verschonen, indem sie unerlaubte Zitate aus ihrem Buch ausdrücklich untersagt.

So wird diese Autorin, die es sich seit dem Nobelpreis leisten kann, mithilfe des Internets wirklich unabhängig. Gerade der „Roman“, diese so wenig definierte literarische Textform, lässt ihr dabei die größte Freiheit. Auch das wird reflektiert, indem „E. J.“ in einem Kapitel immer wieder eine Novelle, also die strengste aller Prosaformen, verspricht und dann doch nicht schreibt.

Die Autorin lässt sich in „Neid“ wie immer von der Sprache treiben. Sie sagte einmal in einem Interview: „Die Sprache zerrt mich hinter sich her, wie ein Hund seinen Besitzer an der Leine hinter sich her zerrt, und schnüffelt an jeder Ecke.“ Dabei lässt sie sich zu Kalauern und Wortspielen verführen, auch zu Grob- und Derbheiten. In „Neid“ geht es um den Neid der „Toten“ auf die „Lebenden“, der alten Frauen auf die jungen, der Erfolglosen auf die Erfolgreichen, der sterbenden Kleinstädte auf die Großstädte, der Wohnblocks auf die Einfamilienhäuser, der verhassten Autorinnen auf die beliebten Autoren, der Sprachavantgardisten auf die Erzähler.

Elfriede Jelineks „Privatroman“ ist nur vorgeblich ein mäandernder, kaum strukturierter Wutmonolog, denn das Buch ist kunstvoll gebaut. Wer noch immer nach „lebendigen Erzählungen“ sucht, wird mit Elfriede Jelineks „Neid“ nichts anfangen können. Alle anderen allerdings sehr. Sie bekommen einen Text, der feministischer, entschlossener und ästhetisch radikaler nach Emanzipation verlangt als alles, was derzeit als radikalpolitisch gehandelt wird.

„Neid“ unter www.elfriedejelinek.com