Ein anderer Wohlstand ist möglich

ESSAY Wie man die Wirtschaft mit dem Erhalt der Biosphäre in Einklang bringen kann

■ ist einer der wichtigsten Vordenker des nachhaltigen Wirtschaftens und Hauptautor der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ des Wuppertal Instituts, die 2008 im Fischer Verlag erschien.

VON WOLFGANG SACHS

Man muss nicht zur See fahren, um den Unterschied zwischen Öltanker und Segelschiff zu erkennen. Der Tanker, ein Ungetüm aus Stahl, erbringt gewaltige Transportleistungen, aber er ist schwer zu manövrieren, nur auf Seestraßen einsetzbar und verbrennt jede Menge fossilen Treibstoffs. Anders das Segelschiff. Es ist zwar klein, aber leicht und wendig, angetrieben von solarer Energie in Form von Wind, gesteuert von einer geschickten Besatzung. Doch in Sachen Ladegewicht und Geschwindigkeit kann es mit dem Tanker nicht mithalten. Ähnlich dem Segelschiff ist auch der ökologische Wohlstand dematerialisiert, naturverträglich und maßvoll in der Leistung, während der industrielle Wohlstand auf hohem Ressourcenverbrauch, Naturvergessenheit und maximaler Leistungskraft beruht.

Ein Segler kann kein Übergewicht gebrauchen. Jedes Kilo kostet Platz und macht das Boot schwerfälliger. So sucht der Skipper den Umfang der Ladung zu optimieren, und zwar so, dass die Trag- und Fahrfähigkeit des Bootes nicht beeinträchtigt wird.

Dematerialisierung ist auch die Devise eines anderen Fortschritts. Angesagt ist der Übergang zu einer ressourcenleichten Ökonomie, die das Gewicht der Wirtschaft mit der Tragfähigkeit der Biosphäre in Einklang bringt. Allenthalben gehen Ingenieure und Designer daran, die Hardware der Gesellschaft auf mehr Ressourceneffizienz umzurüsten. Schritt für Schritt wird bereits eine andere Wirtschaft sichtbar, in der jede Einheit an Wertschöpfung einen immer kleineren Fußabdruck auf dem Planeten hinterlässt.

Dazu gehört zunächst, leichte, verbrauchsarme und dauerhafte Produkte zu schaffen. Schon heute kommt etwa der Toyota Prius mit 40 Prozent weniger Treibhausgasen als der Durchschnitt neu zugelassener Benzinautos aus. Passivhäuser können sich bereits mit einem zero carbon footprint brüsten. Dann steht an, Produktionsverfahren ressourcenschonend zu gestalten. Bewässerung über ein Tröpfchensystem ist viel effizienter, als Felder zu fluten. Noch bessere Aussichten eröffnen sich, wenn man nicht nur das Endprodukt, sondern seinen gesamten Lebenszyklus betrachtet. Über 90 Prozent aller Materialien und Energien werden verbraucht, noch ehe das Produkt fertig ist – Abraum im Bergbau, Abwärme aus Kraftwerken, Bodenverlust im mechanisierten Landbau, Getreide in der Tierproduktion, Transportaufwand in der Treibstoffversorgung. An jeder Station der Produktkette lassen sich durch Effizienz im Design und Intelligenz in der Organisation Verschwendung und Verlust vermeiden.

Selbst Landratten fasziniert am Segelboot, wie es der Natur Bewegungsenergie abluchst, ohne sie zu plündern. Dank ausgefeilter Handwerkskunst vermag es sogar, gegen den Wind Tempo zu machen. Naturverträgliche Technik schaltet sich in Naturflüsse wie Wind, Sonne, Wasser oder organisches Wachstum ein, fängt sie ein, lenkt sie, macht sie so für menschliche Zwecke nutzbar. Allerdings lassen sich Geschwindigkeit und Stärke der Naturflüsse nicht ohne Weiteres steigern; nur Umwandlungstechniken wie Staubecken, Pflanzenzucht, Segel oder Parabolspiegel können es darauf anlegen, mehr aus einem gegebenen Fluss herauszuholen. Anders verhält es sich mit fossilen Energien und Materialien. Sie werden aus Beständen der Erdkruste entnommen, sind in hoher Dichte verfügbar, und ihre Ausbeutung kann beliebig beschleunigt werden – jedenfalls solange der Vorrat reicht. Allerdings ist der Vorrat endlich, und endlich ist auch die Atmosphäre als Deponie für die Reststoffe aus ihrer Verbrennung. Deshalb können sie nur eine vorübergehende Phase der Weltgeschichte prägen. Zur Dematerialisierung des Wohlstands wird dessen Naturverträglichkeit treten. Windräder, Solarkollektoren, Photovoltaikzellen, die Parkscheinautomaten mit Strom versorgen: In den letzten zehn Jahren ist vielfach anschaulich geworden, wie die ersten Schritte auf dem Weg zu einem solaren Energiesystem aussehen. Naturflüsse zu ernten und nicht Naturbestände zu plündern, das wird aufs Neue die Losung sein, wie vor der Industriewirtschaft. Jedoch wird der erneute Übergang keine Rückkehr darstellen, schon gar nicht zu den energiekargen Verhältnissen einer Agrargesellschaft, sondern die Passage zu einer Wissensgesellschaft auf mittlerem energetischen Niveau. Hinterlässt doch das fossile Intermezzo keinesfalls nur leere Lagerstätten, sondern auch eine Erbschaft an Technologien und Kenntnissen. Dies sollte die solarenergetische Zivilisation von morgen befähigen, Umwandlungstechniken bereitzustellen, die eine beständige und verdichtete Energie- und Materialernte erlauben: Solarzellen, intelligente Stromnetze, Biotechnik. Sie werden mit weit höherer Raffinesse und Wirkkraft als in der Vergangenheit aus dem laufenden Haushalt der Naturkräfte schöpfen, ohne die Vermögensbestände rapide abzutragen.

Dabei wird zudem eine mögliche Trendumkehr zur Dezentralisierung sichtbar. Im Gegenzug zu den Konzentrationsbewegungen im Rohstoffsektor in der Vergangenheit entstehen dezentrale, kleinmaßstäbliche, über das Territorium verteilte Produktionscluster für Energie, Nahrungsmittel und Rohmaterialien. Es formiert sich eine Wirtschaftsstruktur, in der viele Miniproduzenten an vielen Orten und nicht mehr wenige Megaproduzenten an wenigen Orten die Versorgung leisten. Selbstverständlich formiert sie sich nicht von selbst, sondern es wird sich in der Auseinandersetzung mit den Machtinteressen der Energiekonzerne herausstellen, wieweit diese technisch gegebenen Chancen tatsächlich realisiert werden können. Auf jeden Fall wird diese Auffächerung weniger dem Modell der Inseln als dem Modell des distributed computing folgen: Dezentrale Einheiten sind über Energie- und Informationsverbünde vernetzt. Eine naturverträgliche Wirtschaft liefert die Basis für eine re-regionalisierte Wirtschaft.

Dass ein Übermaß an Lebensstandard die Lebensqualität vermindern kann, gehört zu den Lektionen, die wohlhabende Gesellschaften mittlerweile lernen mussten

Ein Segelboot ist zwar leicht und naturverträglich, aber auch, gemessen an einem Motorschiff, beschränkt in seiner Leistungsfähigkeit. Es kann weder schwere Lasten laden noch eine zuverlässig hohe Geschwindigkeit bieten. Im Prinzip gilt diese Analogie auch für die ökologische Wirtschaftsweise.

Es wäre fahrlässig, zu erwarten, dass Dematerialisierung und Naturverträglichkeit allein genügen, um eine Volkswirtschaft mit einem viel kleineren ökologischen Fußabdruck zu schaffen. Ressourceneffizienz schützt nicht vor Übermaß; auch eine rationell organisierte Wirtschaft kann bei fortgesetztem Wachstum vom Gesamtumfang der Ressourcenansprüche her zu schwer für die Biosphäre werden. Auch die Naturverträglichkeit verträgt kein Übermaß. Denn erneuerbare Energien und Materialien sind nicht unbegrenzt zu haben; insbesondere die Bodenfläche für Bioenergie und -materialien lässt sich kaum ausweiten, ohne Nahrungsproduktion und Naturschutz zu gefährden. Dematerialisierung und Naturverträglichkeit verfehlen ihr Ziel, wenn nicht das Prinzip der Selbstbegrenzung an ihre Seite tritt. Denn es ist schwer vorstellbar, dass ökologische Begrenzung auf die Dauer ohne ökonomische Zurückhaltung zu halten sein wird – in jedem Fall aber legt es das Vorsorgeprinzip nahe, davon nicht auszugehen. Deshalb gehört Selbstbegrenzung in wirtschaftlicher und technischer Leistungskraft zum Leitbild einer zukunftsfähigen Wirtschaft. Die Frage „Wie viel ist genug?“ wird sich nicht umgehen lassen. Dass Selbstbegrenzung indes auch guttun kann, gehört zur Alltagserfahrung.

Ganz ähnlich können die Leistungen der Hochenergiegesellschaft in ihr Gegenteil umschlagen. In der Dimension der Zeit stellt sie enorme Geschwindigkeiten zu Verfügung, die aber nicht selten zu Verstopfung und Stau führen. Große Städte, allen voran Paris, wollen deshalb mittels Verleihstationen und Kreditkarten das Fahrrad zum Nahverkehrsmittel Nummer eins aufrüsten. In der Dimension des Raums bringt die Industriewirtschaft globale Verflechtungen hervor, die aber auch zur Ausdünnung des Lokalen führen. Wiedererwachende Regionen sind eine Reaktion darauf. In der Dimension der Menge produziert sie endlos viele Güter, die wiederum zur Verflachung der Genussfähigkeit beitragen. Darum floriert die Suche nach dem Zeitwohlstand, der vor lauter Güterwohlstand abhandengekommen ist. Dass ein Übermaß an Lebensstandard die Lebensqualität vermindern kann, gehört zu den Lektionen, die wohlhabende Gesellschaften mittlerweile lernen mussten. Damit eröffnet sich die Aussicht auf doppelte Dividende: Weniger Wirtschaftsleistung schont Ressourcen und schafft Raum für ein besseres Leben.