Weißes Schluchzen

Kritik am Kolonialismus, Solidarität mit der Dritten Welt: Die Linke und ihr Hadern mit den blinden Flecken ihres Internationalismus

VON DOMINIC JOHNSON

„Der Kolonialismus ist ein System“, schrieb der französische Philosoph Jean-Paul Sartre in seinem Essay zum Algerienkrieg; „er verpestet noch die Atmosphäre: er ist unsere Schande, er spricht unseren Gesetzen Hohn oder macht sie zu Karikaturen ihrer selbst; er infiziert uns mit seinem Rassismus, er zwingt unsere jungen Leute, gegen ihren Willen zu sterben für die Naziprinzipien, die wir vor zehn Jahren bekämpften; er sucht sich zu verteidigen, indem er den Faschismus nach Frankreich hineinträgt. Unsere Rolle ist es, ihm beim Sterben zu helfen.“

Das war 1956, und damit war die antikoloniale Komponente dessen, was später als Achtundsechzigerbewegung berühmt werden sollte, schon klar umrissen. Die kolonialen Besitztümer Europas auf anderen Kontinenten waren nicht nur deswegen abzuschaffen, weil sie die Menschen dort unterdrückten, sondern auch, weil sie die eigene Gesellschaft vergifteten. Wenn Frankreich und Großbritannien in ihren eigenen Territorien ihre eigenen Freiheitsideale mit Füßen treten, verlieren sie ihre ideologische Glaubwürdigkeit. Wer in der westlichen Welt überzeugend für Freiheit eintreten will, muss die Unfreiheit bekämpfen, die vom Westen ausgeht.

Der Kampf gegen europäischen Kolonialismus und Neokolonialismus in Afrika und Asien verknüpfte sich in dieser Analyse untrennbar mit dem Kampf gegen US-amerikanische Kriege und Interventionen in Lateinamerika und Indochina. Das verlieh dem globalen Anspruch der Achtundsechziger eine ungeahnte Sprengkraft und moralische Wucht. Die Verbrechen der Franzosen in Algerien Ende der Fünfzigerjahre, die Zerschlagung der Freiheitsbewegungen des Kongo Anfang und der Vietnamkrieg der USA Ende der Sechzigerjahre sowie später die tatkräftige Unterstützung der „freien Welt“ für blutrünstige Militärdiktaturen in Südamerika und verbrecherische Apartheidsysteme im südlichen Afrika – all das ergab in der Summe ein unschlagbares Argument, in dem die Rollen von Gut und Böse klar verteilt waren.

Ein moralischer Impuls des Kampfes für eine bessere Welt, wie er darin zum Ausdruck kommt, war auch die einzige auf dem ganzen Globus nachvollziehbare Rechtfertigung dafür, dass sich Linke in Westeuropa mit den realsozialistischen Diktaturen in Osteuropa und der Sowjetunion zusammentun sollten. Schließlich standen diese im Weltmaßstab auf der richtigen Seite. Unzählige afrikanische, arabische und asiatische Befreiungskämpfer fanden in Moskau Zuflucht und Unterstützung; Kuba schickte seine Soldaten auf afrikanische Schlachtfelder; Peking entsandte Aufbauhelfer in afrikanische Frontstaaten.

Erst in Indochina, später auch im südlichen Afrika loderten die heißen Fronten der eurozentrisch „Kalter Krieg“ genannten Konfrontation zwischen Ost und West. Ohne die nicht nur verbale Schützenhilfe aus dem Osten hätte der Krieg der antikolonialen Befreier gegen den Westen nicht gewonnen werden können, weder in Vietnam noch in Angola.

Eine Generation später, nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Blockkonfrontation, ist schwer nachzuvollziehen, wie polarisiert die ideologische Debatte damals war. Kritik an totalitären Tendenzen in Freiheitsbewegungen und am systematischen Messen mit zweierlei Maß bei der Betrachtung des „westlichen“ und des „östlichen“ Lagers war nicht nur im Gespräch heikel, sondern oftmals lebensgefährlicher Verrat. Es herrschte Krieg. Die kolonialen und antikolonialen Schlachtfelder der Sechziger- und Siebzigerjahre verbrauchten zehnmal so viel Rüstungsmaterial und forderten hundertmal so viele Menschenleben wie die vielen Kriege der Gegenwart – in Irak und Afghanistan, aber auch in Kongo, Sudan oder Somalia. Die hoch entwickelten Gesellschaften genießen heute trotz aller inneren Mobilisierung gegen den Terror und trotz aller Anstürme der Globalisierung eine historisch außergewöhnliche Idylle im Verhältnis zur sogenannten Dritten Welt. Ihr Engagement in den Krisen und Konflikten der Welt hat nachgelassen.

Die wohl bemerkenswerteste Veränderung seit der Achtundsechzigerära des antikolonialen Kampfes ist das weitgehende Verschwinden des Rassismus aus dem politischen Diskurs. In der Kolonialzeit und auch in der Zeit, als kolonialistisch sozialisierte Politiker die Geschicke Europas bestimmten, bestand breiter Konsens über die eigene Überlegenheit – und zwar nicht nur ideologisch, sondern auch rassisch. Über die „gelbe Gefahr“ wurde ebenso offen gesprochen wie über den Mangel an „Reife“ der Afrikaner, sich selbst zu regieren. In Afrika gab es nicht nur weiß regierte Apartheidstaaten, sondern auch weiße Siedlerkolonien, die Sonderrechte beanspruchten und die eigene Überlegenheit nicht einmal hinterfragten. In Europa wurden Schwarze bestaunt; Halbwissen voller Klischees ersetzte in den Zeiten vor Massentourismus und globaler Kommunikation die Erkenntnis über die Vielfalt der Welt.

Auch unter fortschrittlichen Kräften wurden die Bürger von Kolonialstaaten meist pauschal als unterdrückte „Masse“ glorifiziert und selten als Menschen mit komplexen Einzelerfahrungen ernst genommen. Ihre Länder galten als Verfügungsmaterial für die aufgeklärte Avantgarde der Befreier. Frantz Fanons Wort von den „Verdammten dieser Erde“ (so auch der Titel seines viel gelesenen Buches) war in der Konsequenz, wenn auch nicht in der Intention, eine aufklärerische Wendung der von Rassisten postulierten Minderwertigkeit nichtweißer Völker.

Bleibt man im Fortschrittsdenken der Achtundsechzigergeneration, so war die Allianz zwischen europäischen Linken und antikolonialen Freiheitshelden eine notwendige. Sie machte das Ende des Kolonialismus möglich; mehr war jedoch nicht möglich. Trotzdem war dies, für damalige Maßstäbe, schon unheimlich viel.

Die Achtundsechzigerlinke schaffte es aber nur selten, den etablierten Diskurs über Rassen und Kulturen tatsächlich zu überwinden, sosehr sie das auch versuchte. Sie trug ihre Kritik vor allem ökonomisch vor – Dependenztheorie, Neokolonialismus, ungleiche Handelsstrukturen und die vielen anderen Facetten der damaligen Kritik an den Beziehungen zwischen Nord und Süd sind bis heute wirksam geblieben.

Die Ökonomisierung einer ideologischen Kritik, deren Sprengkraft eigentlich in der Moral liegt, ist schon in den Brandschriften Sartres und anderer Linker, stets gegen Frankreichs Herrschaft in Algerien gerichtet, zu finden. Das war allerdings zugleich der Nährboden für eine eigentlich unzulässige Vereinfachung der möglichen Gegenmaßnahmen: Es reichte, wirtschaftliche Macht von einer kolonialen auf eine einheimische Elite zu übertragen, um Gerechtigkeit herzustellen. Die Unabhängigkeit eines kolonisierten Landes als „Sprung ins Unbekannte“ zu definieren ermöglichte es, die Notwendigkeit einer vorausschauenden Analyse der Politik von Befreiungsbewegungen an der Macht auszublenden.

Auf diese Weise konnten Zwangsverstaatlichungen und Enteignungen dann als progressiv interpretiert werden, wenn antikoloniale Herrscher sie durchführten. Diese blieben meist von der durchaus vorhandenen zweiten Ebene von Kritik verschont – der Kritik an den sogenannten comprador bourgeoisies, den neokolonial agierenden Marionettenherrschern prowestlicher Entwicklungsländer – obwohl ihr Wirken nicht besser war. Das Messen mit zweierlei Maß, erzwungen aus der Ost-West-Konfrontation, wurde damit in die Innenpolitik asiatischer, afrikanischer und lateinamerikanischer Länder hineingetragen und hat sich zuweilen bis in die Gegenwart gehalten. Noch heute fällt es so manchem Linken schwer, grundsätzliche Kritik an Politikern wie Fidel Castro, Robert Mugabe oder Hugo Chávez zu üben.

Das Versagen des Versuchs, einen unverfälschten Blick auf die Objekte des eigenen Diskurses zu richten, ist kein bloßer Zufall, sondern hängt mit dessen Entstehungsgeschichte zusammen. Wie die am Anfang zitierte Analyse Sartres verdeutlicht, ging es den Unterstützern antikolonialer Bewegungen vor allem um die eigene Gesellschaft.

Neben der Selbstverständlichkeit des Rassismus damals muss eine weitere Dimension der damaligen politischen Kultur, die im Rückblick gerade beim Thema Kolonialismus meist vergessen wird, in Anschlag gebracht werden: die zeitliche Nähe der antikolonialistischen Kämpfe zum Zweiten Weltkrieg. Dass französische Soldaten, die erst wenige Jahre zuvor für die Freiheit ihres Landes gekämpft hatten, jetzt die Freiheitsbewegungen anderer Länder im Blut ersticken sollten, war zutiefst empörend.

Wenn Vichy-Führer Maurice Papon erst Kollaborateur der Nazis war und dann algerische Demonstranten in Paris massakrieren ließ, war die Kontinuität evident. Zumal es sich teilweise um die gleichen Soldaten handelte – und zwar auf beiden Seiten. Viele Truppen mit Soldaten aus den Kolonien, die mit Frankreich gleichberechtigt gegen Nazideutschland gekämpft hatten, wurden hinterher entrechtet zurück in die Unterdrückung geschickt und traten danach nicht selten in den bewaffneten Aufstand. Für Großbritannien galt das weniger, weil das für sein Empire wichtigste Land, Indien nämlich, gleich nach dem Krieg unabhängig wurde.

Der zwingendste moralische Kritikpunkt am Kolonialsystem war also die Verlogenheit des Westens. Jede Kritik an den Opfern der eigenen Unterdrückung war damit für lange Zeit tabu. Natürlich war die Vergänglichkeit dieser Haltung darin eigentlich schon angelegt. Die Überwindung des Achtundsechzigerdiskurses unter europäischen Intellektuellen in den Achtzigerjahren hatte als eine Dimension die Zurückweisung der bis dahin von Linken geleisteten „internationalen Solidarität“. Die liberale Kritik am linken „Schluchzen des Weißen Mannes“ war ein notwendiger, wenn auch überzogener Bruch mit der Übersolidarisierung vergangener Zeiten. Aber einen vernünftigen, unaufgeregten Mittelweg hat der Dialog der Kontinente seitdem eigentlich nicht mehr gefunden. Vielmehr haben sich Diskussionen um Multikulturalismus und vor allem um Islam in einer Weise polarisiert, die stark an einige Überspitzungen der Achtundsechzigerdiskurse (wie deren Antidiskurse) erinnern.

Eines jedoch hat sich nicht verändert. Die Selbstkritik des Westens mit der größten Sprengkraft ist heute in den Zeiten des „Krieges gegen den Terror“ dieselbe wie vor vierzig oder fünfzig Jahren in den Zeiten des Krieges gegen antikoloniale Befreier: dass die freiheitlichen Gesellschaften durch ihr Wirken nach außen ihren eigenen Werten zuwiderhandeln, und zwar in einer für sie selbst zersetzenden Weise.

Es wäre ein Maßstab für die Kohärenz und das Geschichtsbewusstsein heutiger politischer Kultur, inwieweit diese Erkenntnis aus einer verflossenen Zeit heute wieder politisch fruchtbar gemacht werden kann.

DOMINIC JOHNSON, Jahrgang 1966, ist Afrikaredakteur der taz und musste in dieser Funktion viele Schattenseiten des Internationalismus der Achtundsechziger kritisch bewältigen