Ich bin zwei Berliner

Heimat im Land der Mitte: Herbert Grönemeyer erteilte im Renaissance-Theater eine Berliner Lektion über das Bedürfnis nach Selbstbefreiung im Osten, die Oberflächlichkeit des Westens, über die Diktatur der Quote und der Zote

In der Old School Rock- und Popmusik gab es grob gesagt den amerikanischen und den britischen Style: der amerikanische bedeutete erdiges Abschuften im Dienste der Kunst, Seelenqualen inklusive. Der britische bedeutete Koketterie. Mir war Letzterer schon immer der sympathischere. Leider orientierten sich die ganzen Deutschrocker im vierten Viertel des letzten Jahrtausends wie Marius Müller-Westernhagen, BAP, die Scorpions und eben Herbert Grönemeyer an Ersterem.

Das war die Zeit der unerträglichen Rockballaden. Da fand ich Grönemeyer immer noch den unschlimmsten, weil seine grelle Stimme zur eckigen Musik wenigstens etwas Hysterisches hatte. Später nervte er dann mit seinem Deutschpopkultur-Identitätsgegrabe, bei der man sich fragte, welches Selbstbewusstsein denn da so aufwändig gepäppelt werden sollte und wozu.

Am Sonntagmorgen um halb zwölf soll Herbert Grönemeyer im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Berliner Lektionen“ einen Vortrag halten. Schon als er die Bühne betritt, trampelt das Publikum mit den Füßen und wirft die Hände in die Luft. Dann bekommen wir eine Berliner Lektion. Wir lernen, dass Berlin die protestantische Spröde ist und seine derzeitige Heimat London die zugeknöpfte Schöne, in der man wohnt, weil man darauf wartet, mit ihr ins Bett gehen zu können. Hm.

Dann feuert Grönemeyer gut gelaunt einen erhellenden Aphorismus nach dem anderen ab, um uns Berlin zu erklären: Diese Stadt ist nämlich Aufbruch und Provinz, alt oder jung, aber nie fertig, alles ändert sich, und das ständig. Wir leben in einem Land der Mitte. Herbert Grönemeyer schimpft auf die Arroganz des Westens, die dem Marschtakt des Wohlstands folgt und den Menschen aus der ehemaligen DDR verdammt wehtut. Denn der Westen, lerne ich weiter, sieht nur die glatte Oberfläche des anderen. Dabei braucht der Osten den Akt der Selbstbefreiung, um dann gleichberechtigt in die Ehe einzutreten – in eine Ehe zweier Spießigkeiten wohlgemerkt, die sich zusammengemufft haben, und jetzt muss halt viel gelüftet werden.

Und die Rockkultur? Die ist stumm und gleichgeschaltet. Dabei muss Kunst unabhängig und gefährlich und nicht käuflich sein! Doch es herrscht, herrscht Grönemeyer uns an, die Diktatur der Quote, um nicht zu sagen: die Diktatur der Zote. Zum Schluss seine Vision für Berlin: ein buntes, leidenschaftliches Miteinander, Politik im Sinne von poly (mehrere), und deshalb sein schlaues Schlusswort: Ich bin zwei Berliner. Knappe Verbeugung, rasendes Publikum, und dann setzt sich Grönemeyer ans Klavier: „Jetzt das Ganze noch mal als Musik – da bin ich schneller, wisst ihr ja“, und intoniert den Song „Heimat“, in dem er bekennt, dass Heimat für ihn kein Ort ist, sondern ein Gefühl.

Ich bin schockiert. So leicht hat man es also als ausgewanderte Rockgröße, den Zurückgebliebenen ihre Stadt und ihren Zustand zu erklären. Mit einer Terminologie, die von abgehalfterter Hipness nur so strotzt, einzig auf das Wort „Paralleluniversum“ habe ich vergeblich gewartet. Mit binsigen Halbweisheiten, die man nur als Karikatur eines Hobbymoralisten ernst nehmen kann. Da fällt mir der schöne Song von Neoangin ein, der sich eigentlich auf die Trostlosigkeit von Großraumtechnodiscos auf dem Land bezieht – was Grönemeyer sicher heftig benicken würde, ohne allerdings die eigene Teilhaberschaft zu erkennen: „We are caught in an land of banality.“ ALMUT KLOTZ