Akte der Schöpfung

Gott, Kunst, Totalität: Hammer-Themen, leichthändig erzählt – Russell H. Greenans wiederentdeckter Roman „In Boston?“

VON ANTJE KORSMEIER

Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Eine persönliche Audienz bei Gott dagegen führt über Leichen. Sieben, um genau zu sein, glaubt man den Ausführungen des Alchimisten Jozef Casimir aus dem 17. Jahrhundert, dessen Buch der namenlose Icherzähler in Russell H. Greenans Roman „In Boston?“ verschlingt. Und leider auch ernst nimmt, denn die Sache mit Gott ist dem jungen Künstler wichtig. Er will den Allmächtigen zur Rede stellen, um von ihm einige Erklärungen einzufordern. Na ja, eigentlich will er Gott selbst umbringen.

Russell H. Greenans Debüt, bereits 1969 erschienen und umgehend ein großer Erfolg, ist später unerklärlicherweise vollkommen in Vergessenheit geraten. Das ist wirklich erstaunlich, gibt es doch nur wenig Romane, die auf so leichthändige Art Hammer-Themen wie Kunst und Authentizität, Totalität, Tod und Verrücktheit miteinander verknüpfen, ohne dass es in irgendeiner Weise anstrengend wirkt.

Das eingangs erwähnte Kräftemessen zwischen Künstlerego und Welterschaffer steht am Ende einer Entwicklung, in deren Verlauf der Leser eine ganze Reihe von Welten und Genres streift. Er erfährt von einer Jugend in Boston um die Mitte des letzten Jahrhunderts; einer harten, aber gründlichen Künstlerausbildung bei einem furiosen italienischen Maestro; der Freundschaft zwischen drei Studenten, die nicht gewillt sind, sich den Moden des Kunstbetriebs anzupassen; von ihrem beruflichem Werdegang und privatem Glück und Leid.

Der Durchbruch des Erzählers kommt, als ihn eines Tages der internationale Kunstexperte Victor Darius im Atelier besucht und staunt: „Sie haben eine ganze Welt geschaffen.“ Darius kauft sofort mehrere der im Stile alter Meister gehaltenen Bilder, und für den Erzähler beginnt eine glückliche Zeit. Er gerät in eine Art Schaffensrausch, produziert zahlreiche Werke, für die Darius stets Abnehmer findet, erhält interessante Aufträge und angemessene finanzielle Entlohnung. In jener Zeit lernt er auch seine spätere Ehefrau Veronica kennen, die als Galeristin in der Kunstwelt tätig ist.

All das beschreibt der Erzähler im Rückblick. Denn mittlerweile hat sich sein Alltag sehr verändert. Statt seines Ateliers sucht er täglich eine Parkbank auf, um sich ausgedehnten Tagträumen hinzugeben. Zu seinem Leidwesen wird er dabei oft von anderen regelmäßigen Besuchern des Parks unterbrochen, wie der spinnerten Mrs Dandelion, dem Lebensversicherungsvertreter Mr Beels und dem cleveren Randolph, einem achtjährigen Jungen, mit dem er Unterhaltungen führt, die zum Besten in diesem Buch zählen.

Alles in allem the life of leisure eines Erfolgskünstlers, der ausgesorgt hat und nur noch die schönen Seiten des Lebens genießt? Wohl kaum, denn es gibt vieles, was den hochintelligent-naiven Erzähler plagt. Die gesellschaftlich ambitionierte Ehefrau ist mit Victor Darius durchgebrannt, sein Freund Benjamin Littleboy hat sich infolge eines Kunstskandals umgebracht, und die Tauben auf dem Fensterbrett seiner Wohnung spionieren ihm eindeutig hinterher; das Malen hat er zugunsten gewisser anderer Tätigkeiten aufgegeben, die ihn in zahlreiche Restaurants Bostons führen. Seine Sorgen vertreibt der Erzähler mit halbstündigen Liegekuren unter seinem Bett, einem, wie er glaubhaft versichert, höchst effizienten Mittel zur Beruhigung der Nerven. Aber als er dann per Zufall von einer spektakulären Wiederentdeckung eines verloren geglaubten Meisterwerks von Leonardo da Vinci hört, geht die Höllenfahrt zu Gott erst richtig los.

Man kann diesen negativen Bildungsroman für seine Fülle an fantasievollen Details, verschrobenen Charakteren und witzigen Gesprächen lieben. Man kann ihn auch als Parabel auf das geplagte Ich in der Moderne lesen – am einen Ende stehen Freiheit, Kreativität, Selbsterfindung, am anderen drohen Neurosen und Wahn. Die metaphysische Obdachlosigkeit der Gesellschaft wird konterkariert durch ein Ich, das sich immer weiter in seine Obsession mit einem „lebenden, handfesten Allmächtigen“ verstrickt – und letztendlich daran scheitert.

Dass Greenan dennoch eine so heitere Melange gelungen ist, liegt an seinem unbestechlichen Humor, dem Pociaos hervorragende Übersetzung zu jeder Zeit gerecht wird. Im Endeffekt sind es somit nicht nur die thematischen Verknüpfungen oder das Spiel mit unterschiedlichen Genres, die dieses Buch so besonders machen. Was nach der Lektüre vor allem haften bleibt, ist die Figur des erzählenden Künstlers – dem liebenswürdigsten Psychopathen der Literaturgeschichte.

Russell H. Greenan: „In Boston?“. Aus dem Amerikanischen von Pociao. SchirmerGraf Verlag, München 2007, 384 Seiten, 22,80 Euro