Niedersachsen bleibt ein Härtefall

Wegen zu rigider Richtlinien verlassen die Wohlfahrtsverbände die niedersächsische Härtefall-Kommission: CDU-Innenminister Uwe Schünemann gehe es nur um die Abwehr von Flüchtlingen. Im ersten Jahr hat das Gremium neun Fälle bearbeitet

Niedersachsen hat als vorletztes Bundesland im September 2006 eine Härtefall-Kommission eingesetzt. Das Gremium hat neun Mitglieder. Sie und ihre Stellvertreter wurden von Innenminister Uwe Schünemann (CDU) ernannt. Vorschläge kamen von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Unternehmern. Um einen Flüchtling oder eine Familie als „Härtefall“ anzuerkennen, ist eine Mehrheit von sechs Stimmen nötig. Danach kann das Innenministerium eine Aufenthaltserlaubnis erteilen. Nur die Mitglieder und ihre Stellvertreter können Anträge an die Kommission richten. Nicht stimmberechtigter Vorsitzender der Kommission ist Frank Frühling. Früher Superintendent in Holzminden, arbeitet er derzeit im Innenministerium. Weitere Mitglieder sind u.a. Hannovers Ex-Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg und Jutta Schwarzer (Handwerkskammer Hildesheim-Südniedersachsen). Flüchtlingsinitiativen sind nicht vertreten. RP

Von REIMAR PAUL
und KAI SCHÖNEBERG

Gut ein Jahr nach Gründung der niedersächsischen Härtefall-Kommission für Flüchtlinge steigen die Wohlfahrtsverbände aus dem Gremium aus. Günter Famulla vom Paritätischen Niedersachsen und sein Stellvertreter Jochen Flitta von der Arbeiterwohlfahrt kündigten gestern an, ihre Mitarbeit zum Jahresende einzustellen. Die vom Land erlassene Härtefallverordnung schränke die Arbeitsmöglichkeiten zu sehr ein. Innenminister Uwe Schünemann (CDU) sei es offenbar „überwiegend um die Abwehr von Härtefällen“ gegangen.

Als eines der letzten Bundesländer hatte Niedersachsen im September 2006 auf Drängen von Flüchtlingsinitiativen und Kirchen eine Härtefall-Kommission eingerichtet. Sie kann ausreisepflichtigen Ausländern „aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen“ zu einem Aufenthaltsrecht verhelfen. Seitdem hat das Gremium nur neun Fälle entschieden – fünf davon positiv.

Die Wohlfahrtsverbände kritisieren, dass laut Verordnung sechs der acht stimmberechtigten Mitglieder zustimmen müssen, um überhaupt einen Härtefall anzunehmen. „Hier muss dringend ein Entscheid durch einfache Mehrheit möglich werden“, sagt Famulla. Es sei nicht hinzunehmen, dass Fälle nicht beraten würden, weil bei nur einem Familienmitglied formale Ausschlussgründe vorliegen. Ein individuelles Votum sei bei dieser Form der „Sippenhaftung“ nicht möglich.

Betroffen war davon etwa ein seit gut 20 Jahren im Land lebender Kurde. Er hatte fachkundig und unter Einhaltung der Tierschutzbestimmungen Schafe geschlachtet, aber keinen Veterinär hinzugezogen – und deshalb einen Strafbefehl erhalten.

Famulla und Flitta verlangen zudem einen Abschiebestopp, sobald ein Fall in die Kommission eingebracht ist. Flüchtlingsinitiativen hatten schon vorher die langen Antragswege bis zur offiziellen Eingabe in das Gremium bemängelt: Zuweilen vergehe dabei soviel Zeit, dass die Abschiebung bereits eingeleitet sei.

Es sei ein „Paradoxon“, dass ausreisepflichtige Flüchtlinge keine Arbeit aufnehmen dürfen, sagt Famulla. Denn zugleich werde ihnen ja vorgeworfen, sie könnten ihren Lebensunterhalt nicht sicherstellen. Der Widerspruch werde noch verstärkt, wenn die Kommission einen Fall nicht behandeln könne, weil die Kommunen Unterhaltszahlungen verweigerten.

Die Verordnung hindere das Gremium in seinem Auftrag, über Flüchtlingsschicksale individuell und aus humanitärer Sicht zu entscheiden: „Die Verordnung muss an zentralen Stellen korrigiert werden“, fordert Famulla. Ob die Verbände ihren Ausstieg noch einmal überdenken, lässt er offen. „Leider“ habe er bislang keinen Termin bei Schünemann bekommen, um seine Kritik persönlich vorzutragen.

„Ich hoffe, dass die Arbeit der Kommission noch Fahrt aufnimmt“, sagt dagegen Kommissionsmitglied Philipp Meyer. Der Superintendent aus Hameln hält den Rückzug der Wohlfahrtsverbände für „verfrüht“, obwohl auch er über „hohe Hürden“ für Antragssteller klagt. Es sei „unbestreitbar, dass Niedersachsen laut einer Synopse von Amnesty International bundesweit die geringsten Fallzahlen hat“, so Meyer.

Wie Meyer hat auch Innenminister Schünemann vom Rückzug der Wohlfahrtsverbände aus der Zeitung erfahren. „Die Gründe sind für uns nicht nachvollziehbar“, lässt er mitteilen. Die Zahl der behandelten Fälle sei deshalb so niedrig, weil nach der neuen Bleiberechtsregelung in Niedersachsen fast 2.400 Flüchtlinge einen Aufenthaltstitel bekommen hätten. Von rund 100 Eingaben fiel demnach ein Großteil unter die Bleiberechtsregelung, 14 wurden von vorneherein abgelehnt, weil zum Beispiel eine Straftat vorlag. Die Zulassungsrichtlinien für die Kommission seien „fast identisch mit denen anderer Bundesländer“, sagt Ministeriumssprecher Klaus Engemann.

Minister Schünemann habe die bundesweit „rigideste“ Verordnung erlassen, widerspricht Heiner Bartling (SPD): Der Ausstieg von Famulla und Flitta sei „bezeichnend für die gnadenlose Kälte der Ausländerpolitik der Regierung Wulff“. Das Härtefallverfahren sei „kafkaesk“, schimpft auch Uschi Helmhold (Grüne): Die Verordnung habe ein Instrument geschaffen, das der Willkür im Vorfeld „freien Raum“ lasse.