Schärfe der Kindheit

Senf hat einmal alles zugekleckst: die Bulette, die Wurst, den Bahnhofsfußboden. Jetzt ist die scharfe Pampe auf einmal wieder gesellschaftsfähig

VON TILL EHRLICH

Wenn Gerüche Albträume auslösen könnten, dann wäre es bei mir der Geruch von säuerlichem Senf; es ist der stechende Geruch des übersäuerten Ostens, der sich mit Staub und Ausdünstungen von Kippen und verschüttetem Bier mischt. Dieser Senfgeruch ist auch ein Bahnhofsgeruch, er ruft Bilder hervor, in denen Menschen hastig Bockwürste verschlingen, Würste in Senfkleckse schmieren und graue Wurstpappen wie totes Laub auf geflieste Bahnhofsböden fallen. Der Geruch der Wurst verflüchtigt sich, die Penetranz des Senfs nicht.

Offensichtlich gab es mal einen Zusammenhang zwischen schlechtem Geschmack und Senf. Das Stigma des Billigen und Piefigen haftet dem Senf teilweise noch immer an. Auch der sprichwörtliche Senf, der aus Gewohnheit überall dazugegeben wird, selbst wenn es nicht passt, hat seinen Ursprung wohl in einer kulinarischen Unkultur, die den Eigengeschmack der Speisen nivelliert und Einheitsgeschmack bevorzugt. Nicht nur billiger Tafelsenf kleckst traditionell routiniert alles zu, auch mit italienischem Feigensenf wird neuerdings viel herumgekleckert. Feigensenf ist das Chutney der Nullerjahre.

Bis vor fünfzehn Jahren galt Tafelsenf bei uns als Spießers Liebling, als begehrte Schmierpaste, die für reaktionäres Milieu, ja völkische Konnotation stand. Dann kam Dijon, die Rettung. Dijonsenf hat den deutschen Senfhorizont erweitert, seitdem ist Senf in der ambitionierten Küche ein Thema und nicht allein auf Imbissbuden und Hausmannskost beschränkt.

Der vulgäre Reiz der Derbheit hat den Senfklecks obligat zu Bulette, Bratwurst und heißer Wurst gemacht. Doch Senf bildet dort, wo er hinpasst, ein interessantes pikantes Gegengewicht zu fetthaltigen Speisen. Der Genuss besteht dann in dem Glück, die Unmittelbarkeit und Dichte einer deftigen Speise zu erleben; das kommt besonders in der geschmacklichen Intensität von warmem Fett zur Entfaltung. Heißer Schinken, Schweinebraten, gebratene Kalbsnierchen oder gesiedetes Ochsenfleisch mit Senf können etwas Herrliches sein. Kalte Speisen und Senf, das ist eine schwierige Verbindung, die feinste Abstimmung erfordert – Senf dominiert leicht den Geschmack.

Im Thema Senf ist gewiss noch mehr Potenzial drin, wie der Blick auf die englischen und französischen Senfe zeigt. Besonders in Frankreich gibt es eine Tradition, die den Senf zu etwas Delikatem entwickelt hat und aus der kultivierten Küche nicht mehr wegzudenken ist.

Die Schärfe des Senfs ist das Geschenk eines unscheinbaren Samens, der Senfsaat. Wenn sie aufgeht, wuchert gelb blühendes Unkraut, dessen Samen die höllische Schärfe des ätherischen Senföls in sich bergen, geschützt von der Hülle dunkler oder hellen Schalen. Das Innere der Schalen ist immer gelb und mehr oder weniger scharf. Dunkelschalige Senfkörner werden Schwarzer Senf genannt, die hellschaligen Weißer oder Gelber Senf. Dunkle Senfsaat enthält die höchste Konzentration von Senföl, aus ihr wird scharfer Speisesenf erzeugt. Aus weißlichen bis gelben Samen entsteht milde Senfpaste.

Bester französischer Senf wird überwiegend aus schwarzer Senfsaat hergestellt, besitzt ein pikantes Geschmacksbild, das Süße, Säure und Salzigkeit raffiniert abstimmt, ohne an Entschiedenheit zu verlieren oder harmonische Langeweile zu verbreiten. Er lässt einen die Kraft des Salzes spüren, ohne versalzen zu schmecken. Seine Säure ist nicht vordergründig, aber deutlich spürbar.

Die Schärfe, die einem in die Nase fährt, ein Kribbeln auslöst, Gaumen und Rachen streift und plötzlich verebbt, wirkt unmittelbar. Darin unterscheidet sich die Schärfe des ätherischen Senföls von der Chilischärfe – Letztere ist länger anhaltend, sie vermag sich am Gaumen einzunisten und bei Überdosierung geschmackliche Feinheiten abzutöten. Beim Senf ist ein Zuviel nicht so tragisch, die Schärfe ist flüchtig.

Dijonsenf ist die Eichung des guten Geschmacks. Das hat nicht allein etwas mit der geschützten Herstellungsart und dem Geschäftssinn kleiner französischer Senfhersteller zu tun, die Exponiertheit ist oft durch geschmackliche Substanz fundiert. Offenbar gibt es in Frankreich eine kulinarische Kultur, die nach Komplexität und Zuspitzung strebt und sich selbst beim Senf nicht mit banalen Süße-Säure-Schärfe-Harmonien begnügt. Im Zuge dieser Sublimation ist mehr aus dem Senf geworden als die verdauungsfördernde Beigabe zu fetten Speisen. Die Senfverfeinerung war – wie alle ästhesiologischen Prozesse – eine langwierige Angelegenheit der Geschmacksbildung, die wenig mit Hedonismus oder Dekadenz gemein hatte, sondern sich immer wieder der Frage stellte, wie man die im Senf angelegten Potenzen zum Vorschein bringen kann, sodass im Zusammenspiel mit Speisen lebendige Geschmacksbilder entstehen.

Maßgebend wird wohl die Entscheidung im Dijon des 18. Jahrhunderts gewesen sein, Essig durch Wein und den Saft zerquetschter unreifer Weinbeeren (Verjus) zu ersetzen. So wurde die eindimensional schmeckende Säure des Branntweinessigs durch sauren Traubenmost und Weinsäure ersetzt, was offenbar zu mehr geschmacklicher Tiefe und Vitalität führt. Dijonsenf ist nicht auf die Stadt beschränkt, bezeichnet allein die Herstellungsart. Er wird aus schwarzer Senfsaat gemacht, was dem Bekenntnis zu höllischer Schärfe gleichkommt.

Entscheidend für die Senfqualität ist die Mahlung, die langsam erfolgen sollte, damit sich der Brei nicht erhitzt. Bis heute bringt die antike Methode, den Senf zwischen Mühlsteinen langsam zu mahlen, beste Qualität hervor. Die in der Industrie eingesetzten Hochleistungsmühlen sind effizienter, doch Schärfe und Aroma verflüchtigen sich dabei leichter. So beruht die Beliebtheit des mittelscharfen „Bautz’ner Senfs“ in Ostdeutschland auf einer legendären Schärfe, die er längst nicht mehr hat. Heute ist es ein seltsam süßlicher Industriesenf, der leer schmeckt. Offenbar geht es nicht um Geschmack, sondern um Sentimentalitäten und ostalgischen Markenkitsch.

Grobkörniger tschechischer Senf ist ein Klassiker, dessen Zusammenspiel von entschiedener Süße und horribler Schärfe wonnige Schauer auslösen kann. Manufactum verkauft handwerklich hergestellten „Trappistensenf“ aus dem Kloster Novy Dvur bei Karlsbad. Diesem Senf fehlen Schärfe und Feinabstimmung, er lässt am Gaumen den Eindruck von süßsäuerlicher Einfalt zurück. Klosterprodukte haben für Klöster zweifellos eine legitime wirtschaftliche Bedeutung, doch Manufactum inszeniert ihre Besonderheit mit derart profaner Rhetorik, dass der Eindruck entsteht, man wolle von einer wiedererwachten Begeisterung der säkularen Welt für monastische Askese und die Mysterien der Religionen profitieren. Die frohe Manufactum-Botschaft lautet: Es gibt sie noch, die heiligen Männer, die euch Gottlosen den Senf zur Wurst dazugeben.

Mit Senföl versetztes kandiertes Obst ist in Italien sehr beliebt. Davon wurde wohl der grasgrün gefärbte Feigensenf abgeleitet, der weder Senf noch Sauce ist, sondern eine ziemlich klebrige und zähe Angelegenheit. Er wird meist aus pürierten kandierten Früchten, Schwefel, Unmengen Zucker, Farbstoffen (E 104, E 133) und Senföl gemixt, vorwiegend für den Export produziert und soll in Italien kaum geschätzt sein. Feigensenf ist zu süß, ihm fehlen Schärfe, Säure und Zuspitzung. Zu herzhaften Speisen passt er nicht, weshalb der süße Kleister meist zu Käse serviert wird und den Käsegeschmack killt. Nur eine der vielen Banalitäten aus Bella Italia, die mit großem Gestus verkauft werden.

Keine Mode ist der „Georgsenf“ von Jörn Hündorf, der mit besten französischen Provenienzen in einer Liga spielt, ohne sie zu kopieren. Senfmüller Hündorf, ist in der Schlachterei seiner Eltern aufgewachsen und sagt, dass Senf etwas Allgegenwärtiges war, das überall draufgeschmiert wurde und den Geschmack seiner Kindheit geprägt habe. Vor etwa zehn Jahren bemerkte er, dass der Senf ihm nicht mehr schmeckte. Er machte sich auf die Suche nach dem verlorenen Geschmack der Kindheit, mörserte Senfkörner, rührte Senfpaste, fuhr nach Dijon – nach Jahren des Experimentierens gründete er eine kleine Senfmanufaktur in Halle an der Saale. Er lässt Schwarzen Senf von einem Biobauern aus dem Umland anbauen, verwendet Siedesalz aus den Hallenser Salinen.

Am Ende steht Biosenf ohne Schnickschnack, der kathartische Schärfe besitzt, lebendig schmeckt, edel komponiert ist und vermutlich anspruchsvoller ist, als deutscher Senf je war. In dem so erreichten Geschmack sucht Intensität eine Anhöhe, um die Sinne plötzlich in die Tiefe zu reißen. Die Sinnesfülle präsentiert ein Bild vom Senf mit einer Kraft, die sprachlos macht und einen Seufzer auslöst.

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, serviert die taz-Sättigungsbeilage