Die bestellte Besetzung

Die alternative Kunstszene belebt – abgesegnet von der Stadt – mit Graffiti-Workshops und Klangrädern den Schlossplatz. Die Idee, die historische Mitte so billig ins Gespräch zu bringen, funktioniert nur bedingt. Denn Straßenkunst lebt von der Illegalität

von NINA APIN

Von der Brücke über den Mühlengraben hat man einen schönen Blick auf die historische Mitte Berlins: die Kuppel des Berliner Doms, den Palast der Republik, eine rote Espressokanne, einen Bauwagen …

Der Blick auf die historische Mitte Berlins ist zurzeit etwas anders als gewohnt. Auf den Stufen der Schlossfreiheit, wo sich einst würdevoll das Reiterdenkmal Wilhelms des Zweiten erhob, leuchtet jetzt frech die rote Espressokanne von einem Holzpodest. Darunter prangt in fröhlichen Buchstaben „AYEAH!“. Der Platz gegenüber dem Palast der Republik quillt schier über vor bunten Bauwagen, wilden Schrottskulpturen und jungen Leuten mit Hunden.

Es scheint, als hätte die alternative Szene der Hauptstadt kurzerhand diesen Platz besetzt, den niemand braucht, dieses Symbol für verfehlte Städtebaupolitik. Seit Jahren schwelt der Streit um den Wiederaufbau des Stadtschlosses. Bis Politiker, Stadtplaner und Investoren sich geeinigt haben, passiert hier erst einmal gar nichts. Und die Subkultur braucht dringend eine neue Heimat: freie Künstlergruppen, nicht kommerziell ausgerichtete Kulturvereine und alternative Wohnprojekte werden, im Zuge einer hauptstädtischen Standortpolitik, weitgehend aus der Stadtmitte verdrängt. Plätze für Wagenburgen, die letzten Stadtnomaden, werden immer knapper: Zuletzt musste das Projekt „Schwarzer Kanal“ sein Areal an der Schillingbrücke zugunsten eines Ver.di-Neubaus räumen.

Doch eine Besetzung ist auf dem Schlossplatz nicht im Gang. Die Kunstaktivisten aus den halblegalen Nischen der Stadt wurden sogar von der Stadt eingeladen: Der Verein „Schlossfreiheit e. V.“, der sich im Auftrag des Bezirksamts Mitte um die kulturelle Wiederbelebung des Schlossplatzes kümmert, bietet unter dem Motto „Kunstsommer auf der Schlossfreiheit“ der Alternativkultur Gelegenheit, sich zu präsentieren. Graffiti-Workshop und Feuerjongleure im Auftrag der Stadt? Der Gedanke scheint absurd, dass diejenigen, die jahrelang an die Peripherie verdrängt wurden, nun wieder ins Zentrum zurückgeholt werden.

Doch eigentlich ist die Logik hinter dem „Kunstsommer“ ganz simpel. Der Schlossplatz braucht mehr Leben, doch für „richtige“ Kunst fehlt das Geld im Stadtsäckel. Also holt man sich ein paar bunte Leute, die zum Nulltarif ein lustiges Spektakel vorführen. Jongleure, Schrottkünstler und Sprayer sind genügsam und zugleich exotisch genug, damit für staunende Normalbürger ein Zirkusspektakel daraus wird. Doch eine Szene, die ihre Vision von einem selbstbestimmten Leben künstlerisch ausdrücken will, kann man nicht auf ihre Erzeugnisse reduzieren. Ohne die politische Aussage hat das auf dem Schlossplatz Ausgestellte keinen rechten Biss. Die in Handarbeit gedruckten „Reclaim The Streets“-T-Shirts wirken in diesem Kontext allenfalls niedlich. Auch die Klangfahrräder des Holländers Kaspar König haben alles, was den vorbeiflanierenden Normalbürger entzückt: „Höre dein Rad“, fordert der studierte Produktdesigner die Passanten auf. Für 2 Euro kann man die Saiten des Gitarrenrads zupfen oder mit dem Druckrad den Schriftzug „Schlossfreiheit“ auf den Boden schreiben. Am beliebtesten ist das Rad mit der quietschgrünen Harmonika auf dem Lenker. Über einen Schlauch wird der Tastendruck auf den Sattel umgeleitet. Durch Druck auf den Sattel wird der Ton hörbar. Es sieht lustig aus, wie die Harmonika-Radler wild hoppelnd versuchen, beim Fahren eine Melodie zu erzeugen. Aber über diesen Witz hinaus?

Die öffentliche Aufkleberwand der Siebdruckwerkstatt Beatleprint mutet zunächst auch eher harmlos an. Zum Bekleben stehen kleine Ameisen, Baumstammmotive oder Stromblitze mit dem Spruch „Stromausfall Berlin“ zur Auswahl. Neben der Wand sitzt der Aufklebermacher Frank Dudda und pinselt Baumringe auf ausgesägtes Sperrholz. „Die Baumstümpfe werde ich hier aufstellen“, sagt er und zeigt auf die leere Asphaltfläche vor dem Mühlengraben. „Um zu zeigen, wie tot das hier alles ist.“ Der Künstler mit den vielen Tattoos und dem langen Pferdeschwanz hat den öffentlichen Stadtraum als Arbeitsplatz auserkoren. In der Siebdruckwerkstatt des Kulturprojekts „Fleischerei“ produziert er Aufkleber und Plakate und zieht dann nachts durch die Stadt. Unermüdlich beklebt er leer stehende Häuser, Bauzäune und Stromkästen mit seinen „Stromausfall Berlin“-Stickern. „Stromausfall, damit meine ich einen Ausnahmezustand, der die Leute zwingt, sich aus ihren gewohnten Bahnen zu bewegen. Hier in Berlin ist doch totaler Stillstand“, sagt Dudda. Vor ihm liegt ein Sticker, der eine große Lunte zeigt: „Berlin im Arsch“. Solange sich nichts bewegt in dieser Stadt, wird er weiterkleben, um den Alltagsblick der Stadtbewohner zu irritieren, sooft es geht. Frank Duddas Aufkleber sind nicht lieb und bunt, sie sind unbequem. Sie zeigen, dass die Stadt sich mit der Entscheidung für den „Kunstsommer Schlossfreiheit“ auf einem schmalen Grat bewegt. Straßenkunst lebt von der Illegalität, der Provokation. Sie zur Belustigung der Öffentlichkeit auszustellen funktioniert nur bedingt.

Nach einem letzten bunten Showdown mit Musik und Akrobatik am Wochenende werden die jungen Wilden zwar wieder in ihre Hinterhöfe und Abbruchhäuser verschwinden. Doch sie werden ihre Kunst nicht mitnehmen. Die Ameisen und roten Espressokannen werden weiterhin die Stadt bevölkern. Und manche Besucher des Schlossplatz-Spektakels werden diese Zeichen zu deuten wissen.