Auch Sartre taucht im Prinzen

■ Ein Sommerabgesang auf das schönste Freibad der Welt - das Prinzenbad in SO36

Kreuzberg. Kann man in Kreuzberg im Spätsommer als Bleichgesicht rumlaufen? Unmöglich, wenn alle guerillabraun aus Kreta, Samothraki und Gomera ins Prinzenbad einfliegen; Urlaub ist auch in alternativen Lebenslagen Pflicht.

Zurück in Berlin. Schönes Wetter. Freue mich richtig aufs Prinzen. Ich fühle es. Jetzt beginnt der eigentliche Urlaub. Was das soll? Na ja - also im Prinzenbad sind einfach alle. Nicht nur tazler, sondern alle. Es ist das schönste und interessanteste Freibad der Welt. Hier treffen sich Studis und Azubis, Prole- und Vegetarier, Kinderläden und Karatekids, Kleinfamilien und einsame Psychotiker, führende Autonome und arbeitslose Szenearistokraten, Alkis und Lebensmittelhändler aus aller Herren Länder. Nur hier ist jeder ganz er selbst. Und wenn er selbst nichts ist, dann spielt er eben jemand anderen. Dort vorne, der halbblinde Knacker im pinkfarbenen Tanga beispielsweise. Das ist niemand anderes als J.P. Sartre im Urlaub. Aber da ist auch Karl Marx. Dort sitzt er, natürlich an einen Baum gelehnt. Krebsrot und 'n Schultheiss vor sich. Verständlich. Aber seine Jenny, oje, ist die runter. Diesmal mache ich mindestens vier Schwarzeneggers aus, davon einer schwarz. Omam Biyik und Yannick Noah sind ebenso da wie Chang und Bruce Lee. Auch die Michael Jacksons vom letzten Jahr sind wie- dergekommen, aber Jackson ist out. Irgendwie kann ich aber Trotzki und Madona heute nicht orten.

An der Rutsche passiert was. Vier Yul-Brynner-Varianten haben sich als Redskins unter die Badenden gemischt. Die beiden verdreckten Köter schwimmen mit. Das will aber der Bademeister nicht, der auf Nick Nolte macht. Es kommt zum kurzen Disput, und - die Glatzköpfe geben nach. Zwei Neue sind dazugekommen. Ich beachte sie nicht weiter. Es handelt sich lediglich um de Maiziere und Gysi. Ekelhaft! Wie kann man auf die beiden machen. Außerdem würden die doch nie gemeinsam baden. Drüben sitzt jetzt Jesus mit Vollbart. Der muß vom Prenzl sein, hier haben wir ja kaum noch welche. Und ganz hinten in der Ecke, fast verstohlen, sollte es wahr sein, Saddam ...

Gerade blättere ich im Lokalteil jener Zeitung ohne Tisch, als mich rhythmisches Trommeln aufmerken läßt. Eine etwa hundertköpfige Menge hat einen Kreis gebildet, aus dem in heißen Schwällen türkische Folkloremusik schwappt. Unwillkürlich frage ich mich, ob das die Knospen einer neuen Solidarität sind, die wir Kreuzberger noch dringend brauchen werden. Die einzige wirklich multikulturelle Stadt Deutschlands wird sich in den nächsten Jahren einer Übermacht von Blitzvereinigungsgewinnlern gegenübersehen, die die jetzigen Bewohner gezielt verdrängen wollen. Wenn es ihnen gelingen sollte, unter anderem Rassismus als Vehikel für ihre Zwecke zu nutzen, hat SO36 schon verloren. Doch im Augenblick schöpfe ich Hoffnung bei diesem Bild, denn neben Türken und Kurden, Schwarzen, Weißen und Asiaten Arm in Arm entdecke ich auch Saddam - unbehelligt.

Der Freibadsprecher meldet sich in eigener Sache. Er spricht mit der klaren festen Stimme Magnums und erzählt von der „Vision des Kreuzberger Sommergottes“: „Es ist kurz vor 20 Uhr, verehrte Badegäste, und ich habe eine Vision. Ich gehe auf die Prinzenwiese und sehe nicht eine Kippe, Flasche oder Dose oder sonst so 'ne Chose, denn die Kreuzberger ...“ der Wind trägt die restlichen Fetzen fort. Bin keineswegs überrascht. Ein Poet als Bademeister? Durchaus stilgemäß. Jeder Zoll ein Prinz! Sozusagen.

Philippe Andre