Leere Wahllokale und volle Freibäder

■ Müde Beisitzer und schlappe Wähler in beiden Stadthälften/ Gegen Mittag hatte ein Drittel der Wahlberechtigten die Stimme abgegeben/ Partei der Nichtwähler versammelte sich im Schwimmbad

Berlin. Wäre eine der Parteien auf den zündenden Gedanken gekommen, für niedrigere Eispreise und größere Freibäder in den Wahlkampf zu gehen, sie hätte gestern vermutlich das Rennen gemacht. Während die Mitarbeiter in den Wahllokalen endlich wieder einmal zur ausgedehnten Lektüre ihrer Zeitung kamen, hatten die Bademeister alle Hände voll zu tun. Vor dem Prinzenbad stauten sich Jung und Alt, Wähler und Nichtwähler, in trauter Eintracht vor zwei Kassen. Cornelia M., mit ihrer vierjährigen Tochter unterwegs, hatte den Gang zur Urne bereits hinter sich. »Viel Unterschied wird es wohl nicht machen, ob ich wähle«, sagt sie. Trotzdem, »man kann ja auch nicht tatenlos zusehen, wie das Leben den Bach runtergeht«. Das sagt sie sich bei jeder Wahl, seit sie wählen darf — und wählt immer wieder die SPD, weil, »die Grünen sind mir irgendwie zu verschwommen«, sprach's und sprang ins Wasser.

Ein älterer Herr mit buntgeblümter Badehose mischt sich ein. Daß die Politiker einen sowieso nur hochnehmen würden, meutert er, und er sich das Wählen abgewöhnt habe. »Nur damit die REPs nicht drankommen, bettelt der Diepgen wieder um meine Stimme.« Dabei hätte sich in Berlin schier überhaupt nichts getan, seit die große Koalition regiere. »Meine Mietkosten laufen mir davon, und mehr Geld kriege ich auch nicht.« Überhaupt werde ja alles »in den Osten rübergeschoben. Wir Kreuzberger können sehen, wo wir bleiben«.

Der 22jährige Mesut hat total vergessen, daß gewählt wird. Eigentlich ist es ihm auch egal. »Wir dürfen ja eh nicht wählen«, sagt er. Wir — das sind ein Drittel der Kreuzberger oder ein Zehntel der Berliner Bevölkerung, die nicht Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind und nicht wählen dürfen. »Wenn wir wählen dürften, müßten sich die Politiker endlich auch mal um uns kümmern«, erregt sich ein anderer Türke. Die Lage seiner Landsleute werde immer desolater, erzählt er. Verdrängung, keine Ausbildungsplätze, keine Jobs, unbezahlbare Wohnungen. In den Wahllokalen sah es zur Mittagszeit eher mau aus. Bis 13.30 Uhr sei etwa ein Drittel der Wahlberechtigten erschienen, erzählt ein Mitarbeiter des Wahllokals 157 in der Gneisenaustraße.

Leere Straßen gestern in den Betonsiedlungen von Marzahn und Hohenschönhausen. »Keine Vorkommnisse bisher«, erklärt der Bezirkswahlleiter Kay Döring gegen Mittag. Nur einen betrunkenen Beisitzer habe man wieder nach Hause geschickt. Ein wenig Sorge macht ihm die geringe Wahlbeteiligung. Bis um 12 Uhr haben von 111.868 Wahlberechtigten erst 25,9 Prozent (ohne Briefwähler) ihre Stimme abgegeben. Einen plastischen Eindruck bietet das Wahllokal gegenüber. Vereinzelt trudeln Leute ein, die meisten über vierzig. Auf die Frage, wie denn die Stimmung sei, winkt ein Rentner nur mißmutig ab. Seine Frau ruft hinterher: »Gucken Sie sich die Schmierereien hier an, dann wissen Sie, was wir gewählt haben.« In Marzahn werden den REPs an die 18 Prozent prognostiziert. Auch der PDS, bisher stärkste Fraktion, werden gute Chancen eingeräumt. Ein Familienvater bekennt, die PDS gewählt zu haben: »Irgendwas muß man ja tun«, sagt er, und es klingt ein wenig resigniert. Viele bekennen offen, anders als bei der Bundestagswahl gewählt zu haben. Mit politischen Aussagen halten sich die meisten zurück. Nur ein 53jähriger Arzt gibt unumwunden zu, diesmal statt der SPD den Grünen seine Stimme gegeben zu haben — »wegen der farblosen Koalition hier in der Stadt«.

Gespenstische Stille herrscht auch auf dem Schulhof des Instituts für Lehrerbildung »Clara Zetkin« in Hohenschönhausen. Ein Ehepaar mit zwei Kindern hat unterschiedlich abgestimmt: sie für die PDS aus »Prinzipientreue« und weil sie eine »Wut auf die CDU« habe, er für die SPD. Nein, einen Familienstreit werde es deswegen nicht geben, winken beide lachend ab. Eine 50jährige Krankenschwester taucht mit ihrem schwarzen Pudel auf. Sie sei gekommen, »damit die Rechten nicht gewählt werden«. Beim Hinausgehen pinkelt ihr Hund gegen einen Betonkübel: »Na Harry, da haste nu auch deine Stimme abgegeben, wa?« jgo/sev