Nachschlag

■ Sommer: weg!

Wie kein anderer öffentlicher Ort eignet sich das Freibad, die Bilanz eines Berliner Sommers zu ziehen, der im Mai ein wenig angeberisch begann, um danach an andere Orte zu verschwinden. Drei Tage später als der Kalender – für die, die es jetzt immer noch nicht wahrhaben wollen, daß die Aussichten auf heiße Tage sich eher verringern, und die in abendlichen Gespräche immer noch störrisch darauf beharren, daß es doch ein bißchen kalt wäre für den August – beschließt das Prinzenbad den Sommer. Doch nur wenige stellen sich im kalten Becken den Realitäten der Tage. Die meisten zieht es ins Warmwasserbecken. Sehr bemüht sind die Badenden, wenigstens diesmal die selbstverordneten 20 Bahnen zu schaffen – deshalb hatte man sich ja seine Jahreskarte gekauft. Melancholisch ziehen ein paar hingemalte Wolken vorbei; ein Tränlein glitzert in den Augen des ansonsten so resoluten Bademeisters. Kleinlauter irgendwie als sonst schreien am letzten Tag selbst die blöden Kinder. Die Nackten sind längst wieder in ihren Wohnungen. An den erinnerungstrunkenen weißen Plastiktischen vor dem Kiosk werden letzte Runden im Freien ausgegeben. Traurige Frikadellen kommen vorbei. Sommergeschichten werden erzählt, die allesamt mit einem „Es war einmal...“ beginnen. Von dem fetten Camper an der Ostsee, der einem nackt auf einem Minirad entgegenkam. Von einem anderen, der das Leben zu genießen versteht und zum Beweis für seine Lebenslust einen ganzen Abend lang Bilder von sich und James Last herumgehen ließ, von diesem zu jenem.

Herbstlich wenden sich die Gespräche Orten zu, an denen der Sommer Station machte, nachdem er Berlin verlassen hatte. In der Ukraine – genauer in Lviv (Lemberg) – gäbe es einen Friedhof mit Funktionärsbüsten, die trügen sogar gesteinmetzte Brillen. In Moskau, trumpft jemand auf, hätte er gar steinerne Telefone an den Denkmälern verstorbener Politprominenz gesehen. Solch schöne Dinge verhindere ja nun leider die Deutsche Friedhofsordnung. Im Herbst sterben übrigens mehr Leute als im Sommer. Einiges nimmt allerdings auch einen neuen Anfang. So eröffnete am Samstag der neurenovierte „Friseur“ – alles ist jetzt zitronengelb, und die Bar hat sich sehr vergrößert und professionalisiert – in der Kronenstraße mit einem wunderbar genialen Auftritt der Lolita-Schlagzeugerin Françoise Cactus, die dort mit diversen FreundInnen (u.a. Coco und einer nicht weniger tollen Sabina von der Linden) den Herbst begrüßte und zum ersten Mal seit ungefähr zwanzig Jahren den Siebziger-Jahre-Synthesizerhit „Popcorn“ anspielte.

Der Sommer ist vorbei, und alle gehen nach Haus, um sich dort selbstverliebt in ihre Pullover zu kuscheln. Die Zeiten werden härter und irgendwie auch existentialistischer. Nun gehe es nicht mehr nur darum, schön auszusehen; nun muß man es auch sein, sagen die Plakate. Detlef Kuhlbrodt