Meine Straße
: Im charmefreien Niemandsland

■ Hier kommen und gehen zwar nur U-Bahnen und Autos, doch im Stich wird man nie gelassen

Der Hausverwalter hatte üble Narben im Gesicht und zog das Bein nach. Die Altbauwohnung, die er vermieten wollte, war klein, billig und in einem schrecklichen Zustand: Zwischendecken, vertäfelte Wände, kilowattfressende Nachtspeicherblöcke, braun- beige Kacheln in Küche und Duschbad. Doch das ist eine andere Geschichte... – Nein, ist es nicht!

Denn diese Wohnung liegt in der Gitschiner Straße, dritter Stock, Vorderhaus. Wenn man aus ihren Fenstern schaut, dann auf die U-Bahn, die sich hier zwischen Halleschem Tor und Prinzenstraße auf stählernen Balken durch die Berliner Luft schlängelt. Im Drei- bis Zehnminutentakt rauscht sie ihr gleichförmiges „...großstadtgroßstadtgroßstadt...“. Und bereits nach zwei Tagen und einer zweiten Besichtigung war der Mietvertrag unterschrieben. Den täglichen Bedarf schien schließlich selbst eine Straße wie die Gitschiner decken zu können: Im Sommer läge das Prinzenbad direkt gegenüber; im Winter würde man den Raben (die natürlich Krähen sind) dabei zusehen, wie sie hundertfach und hitchcockesk auf der Liegewiese über die Weltrevolution plauderten; und immer wären es zu den Vierkäsepizzen und Six-packs im TIP-Markt nicht mal 200 Schritte – bzw. keine 20 bis zum Kiosk mit seinen Zeitschriften, Schrippen und Kippen, Pornos und seinem gekühlten Pfirsicheistee für zwischendurch.

Eines Tages allerdings – die Renovierung der Wohnung war gerade abgeschlossen, das abgasgraue Tagesspiegel-Schild durch einen Berliner Zeitung-Leuchtkasten ersetzt – ließ der Kioskbetreiber die Rolläden runter und zog nach Spandau. Doch eine Straße wie die Gitschiner läßt dich nicht im Stich: Kaum einen Monat später gab's im U-Bahnhof Prinzenstraße plötzlich einen „ReisePoint“. Der hat zwar keine Pornos, dafür aber täglich bis 22Uhr geöffnet. Und für die Schachtel danach hält der breite Gehweg sogar einen einsamen Zigarettenautomaten bereit. Die Gitschiner Straße ist lang. Sie zieht sich vom Bauhaus-Archiv in Tiergarten bis zum Schlesischen Tor, auch wenn sie beständig ihren Namen ändert.

Gitschiner Wege aber sind kurz. Das wußte bereits der Hausverwalter, als er die U-Bahn entlang gen Westen wies: „Zehn Minuten bis zum Ku'damm!“ (Was übrigens stimmt, selbst wenn die zehn Minuten Fußweg zur Bergmannstraße schon immer relevanter waren.) Zentraler wohnt sich's nur in der Alexandrinenstraße, deren charmefreies Niemandsland nicht nur geographische Hauptstadtmitte ist, sondern auch gleich um die Ecke.

Im Auge des Sturms mit Parkplätzen satt schaut die Gitschiner allen anderen beim Vorbeifahren zu – von A nach B, von B nach A, nach Mitte und zurück. Das ist nicht „schön“, das ist gut so. Hier nervt kein Tourist, sondern niemand. Wer hier sein ausgedientes Sofa loswerden will, stellt's einfach auf die Straße, am besten unter die U-Bahn. Dort wird es nach etwa einer Woche aufgeschlitzt, und keine vier Wochen später ist es plötzlich verschwunden. Und laut sind nur die Autos. Von denen stoppt die Polizei dann ab und an und meistens nachts einen schwarzen VWGolf mit verdunkelten Scheiben. Und wenn die Pubertätsdrohnen des „Oberstufenzentrums Konstruktionsbautechnik“ in der Lobeckstraße große Pause haben und ausschwärmen, wartet vorm TIP der Wachdienst. Nur die Klassenbesten sind klug genug, aufs zweite Frühstück (1 Tüte Paprikachips, 1 Cola, 1 Marlboro) und Weiterbildung zu verzichten, um gemeinsam mit den türkischen Nachbarskindern über die Mauer ins Prinzenbad zu klettern.

So vertreibt man sich die Aussicht bis zur nächsten U-Bahn. Lange warten muß man nie. Da kommt wieder eine. Kommt und geht. Christoph Schultheis

PS: Das Kiosk wartet weiterhin auf einen neuen Pächter, und nach dem üblen Wasserschaden letzte Woche wird sich in Bälde wohl auch der hinkende Hausverweser der Geschichte wieder in den dritten Stock, Vorderhaus bemühen müssen.