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: Polymorph-Perverses zum Festival-Endspurt

Ein paar kleine Igittigitts

Am Ende eines Festivals liegt manchmal eine merkwürdige Melancholie in der Luft.

Besonders in Venedig, wo alles in stiller Schönheit vor sich hin bröckelt beziehungsweise Wirklichkeit und Kino ohnehin am Verschwimmen sind. Hier lauern überall leichte Visconti-Vibrationen, und man hat das Gefühl, von lauter kleinen Gustav Aschenbachs umgeben zu sein.

Wildfremde Kollegen sprechen beim Abendessen schon nach dem ersten Glas Wein vom Leben an sich, erzählen Kindheitsanekdoten oder von der ersten Liebe, während der Blick ins Unbestimmte schweift.

Vielleicht sollte man sich tatsächlich vor dem Hotel „Des Bains“ einen Liegestuhl mieten und einfach sehnsüchtig aufs Meer schauen. So ließe sich doch angenehm aufs Ende der Zeiten warten – nur hin und wieder gestört durch livrierte Cocktailkellner, den kleinen Strandstaubsauger und die höflichen Nachfragen der Security-Leute.

Was die Festival-Immanenz betrifft, könnte die leicht besinnliche allgemeine Apathie natürlich auch damit zusammenhängen, dass hier in den letzten Tagen so viele morbide Filme zu sehen waren, deren Nachhall ein wenig aufs Gemüt drückt.

Wobei „O Fantasma“ von Joao Pedro Rodriguez dem alten Aschenbach bestimmt gefallen hätte.

Rodriguez’ Film fängt nämlich da an, wo alle Zivilisationskritik aufhört oder schamesrot verstummen würde. Sein Held ist ein Müllmann in Lissabon, dieser prachvollen Stadt, die nach Mitternacht allerding auch nicht viel anders aussieht als Brooklyn. Der Müll, die Stadt und der Sex – das bedeutet für Sérgio, den jungen Streuner mit knackigem Hintern und Waschbrettbauch, die unablässige Befriedigung seiner polymorph-perversen Gelüste. Was die anderen wegwerfen, wird für ihn zur Schatzkammer der Sekrete und Gerüche. Ständig sieht man ihn in diesem ausschließlich in der Dunkelheit spielenden Film an irgendetwas schnüffeln, alte Lumpen kneten oder auch mal die Duschkabine eines öffentlichen Schwimmbades ablecken. Ob nun das schwarze Kunstleder eines Motorradsitzes, die Unterhose der Nachbarin oder der eigene Hund, für Sérgio ist potenziell alles Fetisch. Und die Stadt gehorcht willig den Phantasmen ihres animalischen Helden, bis hin zu Polizisten, die ihn beim Spannen ertappen, dann aber gleich lüstern mit dem Schlagstock zustoßen. Überhaupt wird in „O Fantasma“ hinter jeder Tür gerubbelt, gerammelt, masturbiert und gefummelt. Wenn dann auch noch Latexsex ins Spiel kommt, erleben wir auf der Leinwand endgültig die Apotheose eines sexualisierten Nosferatu.

Der kleine schräge Portugiese im Wettbewerb wurde auf dem Lido zwar mit einigen Igittigitts bedacht, aber welcher andere Film hat schon ein solches Schlussbild zu bieten: eine spinnenartige Gestalt im Gummianzug, die in der Morgendämmerung auf allen Vieren durch die Müllsümpfe am Stadtrand von Lissabon kriecht – fehlen eigentlich nur noch die postapokalyptischen Klangteppiche von Gustav Mahler. Zwar befindet sich „O Fantasma“ jenseits aller Chancen auf einen Preis, die Vorstellung, dass sich ein Regisseur seinen Goldenen Löwen im schwarzen Latexanzug abholt, hätte allerdings was für sich.

Genauso chancenlos dürfte „Durian, Durian“, der Wettbewerbsfilm des Hongkong-Chinesen Fruit Chan Kuo, sein, mit seiner ganz anderen Form des Sexakkords. Chan folgt einer jungen Prostituierten vom chinesischen Festland, die sich in Hongkong das Geld für die spätere Unternehmerinnenexistenz in der Heimat buchstäblich zusammenfickt.

Immer wieder sitzt die junge Yan mit ihren Kolleginnen in einem neonhellen Selbstbedienungsrestaurant, während auf der Tonspur alles durcheinanderpurzelt: Handyklingeln, Radiomusik, die Gespräche der Zuhälter und die hastigen Dialoge der Prostituierten, die sich für den nächsten Freier schminken. Den eigentlichen Akt mit dem Kunden zeigt Fruit Chan nicht, nur das gemeinsame Duschen davor und danach. 38 Freier pro Tag, macht 72 Duschen.

„Durian, Durian“ zeigt keine Opfer, seine Heldinnen sind pragmatische Sexarbeiterinnen, die durchaus die Wahl haben, ihr Visum aber einfach möglichst effizient ausnutzen. Die Konsequenzen dieser Körperökonomie fängt Fruit Chan ganz diskret ein. Immer wieder sieht man, wie sich Yans Haut wegen des vielen Duschens von den Füßen ablöst.

Bei der Rückkehr in die chinesische Heimatprovinz wird alles vergessen sein, obwohl die Osmose mit dem frivolen Hongkong nicht ganz ohne Folgen bleibt. Am Ende singt Yan mit ihren alten Schulfreunden irgendein Parteilied.

Da ist dann im Refrain plötzlich von kollektiven Orgasmen die Rede.

KATJA NICODEMUS