Rattenfahrt zum Mond

Im Glasgow der 70er-Jahre streikt die Müllabfuhr, und die Kinder machen ihr verwesendes Viertel zum Abenteuerspielplatz. Irgendwie könnte in Lynne Ramsays Film „Ratcatcher“ trotzdem noch alles gut werden

Das Arbeiterviertel von Glasgow in den 70ern: definitiv der falsche Ort und die falsche Zeit für eine unbeschwerte Kindheit. Berge von Müll in den Straßen und mittendrin Kinder, die Heerscharen von Ratten durch diesen kritischen Abenteuerspielplatz der Pestilenz jagen.

Lynne Ramsays Debütfilm „Ratcatcher“ beschreibt keinen Ausnahmezustand, es ist der behutsame Blick in das Alltagsleben der Kleinfamilie unter erschwerten Bedingungen; weiß Gott kein Kraft spendender Ort des Rückzugs und der Besinnlichkeit, aber immer noch mehr, als man vom Leben da draußen erwarten darf. Ramsays Bilder entfalten sich ohne Klage, es ist nicht das Schicksal, was sie motiviert, sondern die Art, wie die Menschen dieses Schicksal tapfer bewältigen.

Die Gillespies sind eine Musterfamilie in einem Musterhaus des sozialen Wohnungsbaus. Vater Gillespie kommt von der Arbeit nach Hause und säuft, der zwölfjährige James, dessen Blickwinkel die Geschichte einnimmt, befindet sich auf einer unbestimmten Flucht in die eigene Fantasiewelt, seine etwas jüngere Schwester erfährt dafür die gesamte Liebe ihres Vaters, und Mutter sieht sich immer mehr in die ihr angestammte Rolle des patriachalischen Arbeiterklassesystems gedrängt.

Sie muss die Bande zusammenhalten, den Innendruck gegen den Außendruck kompensieren und kämpft dabei erbittert für das kleine bisschen Familienglück. Denn sie weiß: Wenn das innere Gefüge auseinander bricht, gibt es draußen, wo sich die Müllabfuhr seit Wochen im Streik befindet, erst recht keine Überlebenschance mehr. Ramsay erfasst die Menschen und ihre Beziehungen aber nicht in den Augenblicken fortschreitender Zerrüttung, sondern zeigt im Gegenteil die kleinen Momente der Liebe und Zärtlichkeit, zu denen alle (auch der Vater) noch fähig sind. Nachts kommt James in das Schlafzimmer der Eltern und bedeckt die Füße seiner schlafenden Mutter notdürftig mit ihren durchlöcherten Strumpfhosen.

Doch je härter die Eltern schuften und gegen die unüberwindlichen Barrieren anrennen, desto mehr erweisen sich die Kinder als die eigentlichen Erwachsenen, gesegnet mit einer unbestechlichen Naivität. Ihre Gesichter strahlen bereits eine aufgeweckte Ernsthaftigkeit aus, haben sie doch besser als ihre Eltern gelernt, sich mit den katastrophalen Umständen ohne Verzweiflung abzufinden – in dem Wissen, dass irgendwann alles schon gut wird. Oder eben auch nicht. Gleichzeitig haben sie den Horror der Adoleszenz zu bewältigen, die Jahre der „teenage angst“ und verdrängten Schuldgefühle.

James hat beim Ertrinken seines Spielkameraden hilflos zugesehen, die Rettungsaktion des Vaters an einem anderen Kind wird diese Schuld schließlich begleichen. Einer dieser Momente, in denen das Familiengefüge wieder funktioniert. Der Tod existiert in „Ratcatcher“ in zwei Formen: Im Bild des schwarzen, stinkenden Kanals, an dem die Kinder tagein, tagaus spielen und an dessen Oberfläche Hunderte von Rattenkadavern treiben. Als modriger Seuchenherd liegt er inmitten des Elendsviertels und beraubt die Kinder nach und nach ihrer Gesundheit.

Der andere Tod ist versöhnlicher: Der etwas zurückgebliebene Kenny schickt seine gezähmte Ratte, an einen Heliumballon gebunden, gen Himmel, in der Hoffnung, dass sie irgendwann den Mond erreicht, um dort ein besseres Leben zu fristen. Diese Mondfahrt und die Fantasie der lunaren Rattenkolonie ist einer dieser trostreichen Momente, in denen eine schlichte Poesie den schroffen Realismus von Ramsays Bilder durchbricht.

ANDREAS BUSCHE

„Ratcatcher“. Regie: Lynne Ramsay. Großbritannien 1999, 93 Min.