bücher für randgruppen
: Luigi Russolo und der unerschöpfliche Reichtum der Geräusch-Töne


„Musik wird oft als Lärm empfunden, weil sie mit Geräusch verbunden.“ (Wilhelm Busch )

Groß war des Onkels Abneigung gegen alles, was er „sinnloses Geräusch“ nannte. „Dazu gehörte Klappern mit Messer und Gabel oder dem Geschirr, Trommeln mit den Fingern auf der Tischplatte und auf Fensterscheiben, Türenschlagen, stärkerer Lärm spielender Kinder und dergleichen, aber auch Musik!“ Der Onkel, von dem hier der Neffe berichtet, ist Wilhelm Busch, ein Erfinder des Comicstrips. Es sollte noch etliche Jahrzehnte dauern, bis Bildergeschichten einen halbwegs gesicherten Listenplatz in der Kunst erhielten. Und es sollte noch einige Jahre dauern, bis sich das Geräusch selbst als Musik etablierte.

Einsamer Pionier dieses Unterfangens ist der italienische Futurist Luigi Russolo. Schon 1916 schrieb er: „Wir müssen diesen engen Kreis reiner Töne durchbrechen und den unerschöpflichen Reichtum der Geräusch-Töne erobern.“ Und es sollte genau 94 Jahre dauern, bis Russolos Manifestbuch in deutscher Übersetzung zu lesen ist. Die edition neue zeitschrift für musik hat es nebst einer CD veröffentlicht, die Aufnahmen der von Russolo konstruierten und gespielten Geräuschintonatoren und einiger Neuinterpretationen enthält.

Selbstverständlich beginnt Musik für den Futuristen mit dem Maschinenzeitalter. Die Erfindung der Maschinen ist für ihn auch die Erfindung des Geräusches. Denn außer ein paar Erdbeben, Orkanen, Lawinen und Wasserfällen sei die Natur still, notiert Russolo, dem ich jetzt nicht mit Vogelgezwitscher und Schweinegrunzen kommen möchte. Denn um etwas zu entdecken, muss erst vieles ausgeschlossen werden. Im Bereich der Musik wird diese Regel besonders streng befolgt, schon die Griechen, so Russolo, hätten mit ihrer von Pythagoras mathematisch systematisierten Musiktheorie, die ausschließlich den Einsatz einiger weniger Konsonanzen vorsah, den Bereich der Musik stark beschränkt und dadurch die ihnen noch unbekannte Harmonie verhindert.

Dabei fällt mir ein, dass diese Beschränkung selbst in meinem Musikunterricht am Ratsgymnasium in Wolfsburg den Schülern jede Freude vergällte. Mein Musiklehrer schimpfte auf Rock und Pop und zwang selbst arme Bauernjungs mit ihren klobigen Fingern zum Blockflötenspiel nach Noten: „Der Mond ist aufgegangen ...“ Kein Wunder, dass alle Alice Cooper super fanden. „Schools out!“ war der Hit.

Der Kunstunterricht war dagegen wesentlich freier. Ohne E und ohne U. Einmal führte ich eine moderne Kunstform in den Unterricht ein, nämlich die Performance. Mit Wasser gefüllten Plastikbechern auf den Handflächen balancierte ich brummend durch die Bankreihen und bekam, nachdem ich begründet hatte, was das sein soll, prompt eine Eins. Die behielt ich immerhin, bis ich schließlich von der Schule flog. Wegen dem Brummen hätte ich übrigens im Musikunterricht eine glatte Sechs bekommen.

Aufgrund dieser Ungerechtigkeit lohnt sich die Lektüre des Manifestes zur Kunst der Geräusche auch 94 Jahre nach seiner Abfassung. Die Entwicklung der Musik hinke der der Kunst stets um Jahrzehnte hinterher, wusste schon Eric Satie. Damit meine ich natürlich nicht, dass mein Gebrumme preisverdächtig gewesen sei. Genauso wenig ließe sich Russolos Kriegsbegeisterung als avantgardistisch bezeichnen. Als Freiwilliger habe er „das Glück gehabt, inmitten der wunderbaren, gewaltigen und tragischen Sinfonien des modernen Krieges zu kämpfen“, schwärmt er.

Das ausführliche Nachwort des Musiktheoretikers Johannes Ullmaier unterstützt deshalb nicht etwa die Mystifizierung eines durchaus vielspältigen Künstlers, sondern erhellt den Blick auf Zusammenhänge als hilfreiche Beigabe zum Verständnis seiner ungehörigen Musik und deren Einfluss bis in neueste Zeiten.

WOLFGANG MÜLLER

Luigo Russolo: „Die Kunst der Geräusche“. edition neue zeitschrift für musik, 108 Seiten mit CD, 49,80 DM. Bestellung: Tel. (0 61 31) 24 68 57