Zeuge der Anklage

Kurt Gerstein trat 1940 in die SS, um sie auszuspionieren – wie er später vor Gericht sagte. Jürgen Schäfer hat über Gersteins zwiespältiges Leben eine Biografie geschrieben

Der Angeklagte erklärt dem französischen Major wenige Tage nach Kriegsende: „Im Jahre 1940 erfuhr ich durch den Bischof von Stuttgart von dem Massenmord an Geisteskranken in Hadamar und Grafeneck. Meine Schwägerin, Bertha Ebeling, war unter den Opfern. Zu diesem Zeitpunkt fasste ich den Entschluss, in die Waffen-SS einzutreten.“ Ein SS-Offizier, der nur in die SS eingetreten ist, um auszuspionieren, was an den Berichten über die Ermordung von Behinderten und Juden dran ist? Aber immerhin: ein Mann, der sich den französischen Truppen gestellt und einen mehrseitigen Bericht über das verfasst hat, was er an Gräueln in Konzentrationslagern gesehen hat; ein Mann, der sich für einen Hauptzeugen gegen die Nazis hält – und in der Tat wird sein Bericht zu einem wichtigen Dokument des Holocaust. Aber auch ein Mann, der wie ein Kriegsverbrecher behandelt wird. Ein Widerspruch, an dem der Angeklagte zerbricht: Knapp drei Wochen nach diesem Verhör erhängt Kurt Gerstein sich in französischer Haft.

In der neuen Biografie des Theologen Jürgen Schäfer wird das Leben Kurt Gersteins mit bisher unerreichter Gründlichkeit nachgezeichnet: Aus bürgerlichen Verhältnissen kommend, engagierte er sich zu Beginn der dreißiger Jahre als junger Student in den christlichen Schülerbibelkreisen. Als nationalkonservativer Christ konnte er wie viele andere dem Nationalsozialismus eine Menge abgewinnen und trat 1933 in die NSDAP ein. Aus seiner konsequenten Glaubenshaltung wuchs aber auch ein Widerstandspotenzial: Im Juni 1936 verschickte er, anonym, kritische Predigten und Gutachten von Theologen der Bekennenden Kirche an sämtliche Staats- und Ministerialräte. Als die Aktion aufflog, wurde Gerstein inhaftiert, aus der Partei ausgeschlossen und verlor seinen Posten als Bergassessor. Von da an hatte Gerstein es schwer, in NS-Deutschland wieder beruflich Fuß zu fassen.

Nach einigen erfolglosen Bemühungen um eine neue Arbeitsstelle, verbunden mit dem Bestreben, den Parteiausschluss aufheben zu lassen, kam Gerstein zu dem Entschluss, in die SS einzutreten. Es ist eine der Stärken von Schäfers Arbeit, dass er die unterschiedlichen Motive, die Gerstein zu diesem Schritt geführt haben können, sorgfältig darstellt. So ganz einlinig, wie Gerstein sich gegenüber dem französischen Offizier geäußert hat, war es vermutlich nicht.

1942 erlebte Gerstein Massenvergasungen in den Konzentrationslagern Belzec und Treblinka – und versuchte darauf als Einzelkämpfer, diese schrecklichen Erlebnisse „von Mann zu Mann“ weiterzuberichten: einem schwedischen Diplomaten, seinen Freunden aus der Bekennenden Kirche, holländischen Widerstandskreisen und anderen. Ein durchschlagender Erfolg seiner Spionage blieb aber aus.

Im Hygiene-Institut der SS war Gerstein auch mit der Bestellung von Blausäure zur Vergasung beauftragt. Nach seinen eigenen Aussagen machte er das über ihn bestellte Giftgas unschädlich. Ob diese Sabotageakt aber wirklich Erfolg hatte, lässt sich nicht mehr sicher emitteln.

Gerstein bleibt für Schäfer ein „schwieriger und abgründiger“ Mensch. Aber auch ein Mensch, der unter schweren Bedingungen versucht hat, sich nicht aus der Affäre zu ziehen, sondern genau hinzusehen, wo so viele andere weggeschaut haben. Das ist sein Beitrag zum Widerstand: der Wille zum Hinsehen.

Jürgen Schäfer: „Kurt Gerstein – Zeuge des Holocaust“. 260 Seiten, LutherVerlag, Bielefeld 2000, 38 DM