Todesstrafe bleibt

Türkei beschließt Programm für die Beitrittsverhandlungen mit der EU: Ein Zeitpunkt für die Abschaffung der Todesstrafe ist darin nicht vorgesehen

ISTANBUL taz ■ Mit großen Worten ist gestern in Ankara das lange erwartete „Nationale türkische Programm“, das den Weg des Landes in die Europäische Union beschreiben soll, veröffentlicht worden. Vizepremier Mesut Yilmaz erläuterte auf einer Pressekonferenz den Stellenwert des Programms. „Wir stehen am Beginn einer fundamentalen Revision des gesamten politischen, ökonomischen und sozialen Systems der Türkei“, behauptete Yilmaz. Bei dem Programm gehe es nicht um technische Fragen, sondern um ein großes Transformationsprojekt, das in dieser Form einmalig für die Türkei sei. „Das Programm“, verkündete Yilmaz, „wird die an uns gerichteten Erwartungen erfüllen.“

Zumindest was die neuralgischen Punkte im Verhältnis der Türkei zur EU angeht, bleibt das Papier jedoch weit hinter den Erwartungen der kritischen Öffentlichkeit zurück. Entgegen den Forderungen aus Brüssel hat die türkische Regierung es vermieden, sich auf einen Zeitraum für die Abschaffung der Todesstrafe festzulegen. „Das Parlament wird in den kommenden Jahren darüber entscheiden“, legt das Programm fest. Dahinter steht der Konflikt zwischen Mesut Yilmaz und Regierungschef Bülent Ecevit auf der einen und dem ultranationalistischen Koalitionspartner MHP auf der anderen Seite, die darauf bestehen, vor Abschaffung der Todesstrafe erst einmal PKK-Chef Abdullah Öcalan hinzurichten.

Auch in der zweiten wichtigen Frage, die eine Annäherung an Europa bislang erschwerte, ist noch keine Klarheit geschaffen. Die kulturellen Rechte der Kurden sollen zwar ausgeweitet werden, doch die offizielle Sprache und damit auch die Unterrichtssprache bleibt Türkisch. Auf Nachfragen deutete Yilmaz an, dass auf praktische Fragen, beispielsweise ob ein kurdischer Fernsehsender zugelassen wird, noch keine Antwort feststeht.

Auch an der immer wieder kritisierten dominierenden Rolle des Militärs in allen entscheidenden Fragen des Landes wird sich so schnell nichts ändern. Als Zugeständnis an die EU soll der Nationale Sicherheitsrat, über den das Militär formal in den politischen Prozess eingreift, in seiner Zusammensetzung verändert und die Zahl der Zivilisten aufgestockt werden.

Das Nationale Programm ist deshalb vor allem ein Versprechen an die eigene Bevölkerung, nun tatsächlich einen weit reichenden Reformprozess zu beginnen. Angefangen bei der Verfassung, über das Strafrecht, die Pressefreiheit, das Streikrecht etc. sollen fast alle wichtigen gesetzlichen Grundlagen auf den Prüfstand oder neu geschrieben werden. Yilmaz sagte die Abschaffung der Folter und ein neues Polizeigesetz zu.

Angesichts der augenblicklichen Wirtschaftskrise setzt die Bevölkerung besonders auf eine Annäherung an die EU. Obwohl verschiedene Vertreter der Union in den letzten Wochen immer wieder betont hatten, die Verhandlungen mit der Türkei seien durch die Krise nicht in Frage gestellt, ist doch klar, dass die Überwindung der katastrophalen Lage erste Voraussetzung ist, damit der Prozess überhaupt weitergeht. JÜRGEN GOTTSCHLICH