Polygamie macht glücklich

Und konsequent zu sein ist grausam: Andrucha Waddingtons matriarchalisches Gedankenexperiment „Ich Du Sie“

Sie hat die Hand in die Hüfte gestützt und setzt beim Laufen die Füße nach außen. Wenn Darlene (Regina Casé) durchs Bild geht, möchte man sie zum Bleiben überreden, vielleicht weil man hier etwas über Anmut lernt. Doch Darlene macht selten Halt. Sie wandert, zuerst durch den Abgrund, dann mehr und mehr auf ein Glück zu.

Darlene und ihr Leben, das ist eine Frage der klugen und menschenfreundlichen Kompromisse. Konsequenz, hat Ingeborg Bachmann gesagt, ist immer etwas Grausames. „Das Leichte, Lebbare kommt inkonsequent daher.“

Vorne glimmt eine Petroleumleuchte, im Hintergrund packt die schwangere Darlene irgendwo im brasilianischen Hinterland ihren Koffer. Sie nimmt die Lampe und verlässt den Raum, stellt das Licht ans Bett der alten Mutter. „Ich gehe jetzt“, sagt sie, und: „Ich komme zurück.“ Die Alte antwortet mit einer Empfehlung: „Komm nicht zurück.“ So beginnt Andrucha Waddingtons Film „Ich Du Sie“ in der Tradition des brasilianischen Cinema novo als Geschichte eines Aufbruchs ins Ungewisse.

Drei Jahre und eine Einstellung später steigt Darlene wieder aus dem Bus. Auf ihrem Arm schläft ein kleiner Junge. Sie will ihn von der Mutter segnen lassen, sagt sie dem Nachbarn Osias, der gerade ein neues Lehmhaus baut. Osias schaut ihr nach, er weiß, die Mutter ist tot, und er mag Darlenes Beine. „Du kannst mein Haus haben, wenn du mich heiratest“, sagt er ihr nach der Beerdigung. Tanzen will Osias auf der Hochzeit allerdings nicht. Dafür tanzt Darlene mit Zezinho (Stênio Garcia), der es gar nicht kann. Die Braut bringt es ihm bei. Zur Filmmusik von Gilberto Gil, gespielt von ein paar Musikern aus dem Dorf.

„Ich Du Sie“ ist ein Experiment. Kein filmisches, sondern ein gedankliches. Eine Frau lebt mit mehreren Männern. Damit fantasiert Waddingtons Film offen gegen die Wahrscheinlichkeit. Denn was unter den harten Existenzbedingungen der brasilianischen Steppe und mit Rückendeckung einer Kultur des Machismo durchaus nichts Ungewöhnliches ist, dass nämlich ein Mann, genannt „Sugar Daddy“, sich die Unterstützung vieler Frauen leistet, bedeutet für eine brasilianische Frau die krasse Probe aufs Exempel. Was bleibt zu erwarten, wenn die Wirklichkeit keine Vorbilder zeigt? Der dreißigjährige Andrucha Waddington antwortet mit einer Art von höherer Spielanleitung: „Wenn die Leute glücklich werden wollen, müssen sie neue Regeln annehmen.“ Sagt es und schickt seine Figuren in die Liebe und die Arbeit. Da müssen sie ihr Leben dann selbst aushandeln. Ohne Tricks, ohne Abkürzungen.

Dabei geben die Bilder nie vor, das Geheimnis zu kennen. Lieber verlassen sie sich auf ihre unverhohlene Schönheit, ihre Leichtigkeit und den Witz im Detail. Gegen die Gefahren des Pathos hilft der Rhythmus, das Timing der Szene. Den großen Moment, an dem sich alles entscheidet, lässt „Ich Du Sie“ klugerweise aus. „Gerettet“, sagt Zezinho, als er Darlenes Wäsche aus dem Fluss gefischt hat und sie ihm dafür das Gesicht abküsst. Mehr Geste ist nicht nötig. Nicht dass Darlene die perfekte Geliebte oder die perfekte Mutter oder Kämpferin, Gefährtin, Freundin wäre. Das Phantasma vom Rätselwesen Frau darf von ihr kein Zubrot erwarten. Sie verändert sich, die Männer verändern sich, zusammen werden sie fähiger zur Einsicht und irgendwie begabter zum Genuss.

Am Ende kommt immerhin eine Familie in die Balance: Darlene hackt mit der Machete Mais auf dem Feld und schläft in ihrer Mittagspause mit dem jungen Ciro. Zezinho rasiert Osias und kümmert sich um die Kinder und das Essen. Einmal wollen Osias und Zehinho den schönen Ciro aus dem Haus werfen. Gerade noch rechtzeitig fällt ihnen die entscheidende Frage ein: „Aber wen würde das glücklich machen?“ ELISABETH WAGNER

„Ich Du Sie“. Regie: Andrucha Waddington. Mit: Regina Casé, Lima Duarte, Stênio Garcia u. a. Brasilien 2000, 106 Min.