Knarrenlauf der Geschichte

Mit „Snatch – Diamanten und Blut“ arbeitet Guy Ritchie am visuellen Overkill des Gangsterfilms

von ANDREAS BUSCHE

Guy Ritchies Bilder sind schnell. Abgekoppelt von ihrem unmittelbaren Inhalt, sind sie ihm als Zeichen bedingungslos ausgeliefert – ein Akt der Befreiung? Das psychedelisierende Rauschen der Fragmente kennt nur mehr hoch dosierte Flashs, die die Effekte zum Kollabieren bringen.

Den Grundstock seines Bildervorrats hatte der Brite schon vor zwei Jahren mit seinem Debüt „Bube, Dame, König, Gras“ angelegt. Der kleine, kompliziert erzählte Gangsterfilm war eine laut tönende Fingerübung im Dekonstruieren von narrativen Strukturen. Die Hierarchie der Bilder folgte keiner linearen Logik mehr, sondern allein den Gesetzen der Ballistik.

Mit „Snatch“ liefert Ritchie jetzt das hochkomprimierte Update seines Beschleunigungskinos. Er will den Zuschauer im visuellen Sperrfeuer knacken. Und gleich mit der Eröffnungsszene spielt er sein Repertoire an Tricks konsequent aus. Der Überfall auf ein Diamantendepot in Antwerpen ist eine hektische Demontage von Tempo und Chronologie. Ritchie konzentriert sich ganz auf die abgehackten Bewegungen der Personen, die heranwirbelnden Film-Credits verkeilen sich im asymmetrischen Bildgefüge aus frozen pictures. Die visuelle Verschachtelung forciert das Stakkato der Bilder, während die Kamera durch bizarre Jump-Cuts und Einstellungswinkel den Figuren regelrecht in den Knarrenlauf kriecht. Das Aushebeln der Raumachsen ist Ritchies Spezialität; in jedem Blick lauert der Wahnsinn.

Auch der Overkill an Informationen nimmt in „Snatch“ perverse Züge an. Übersicht im Wust von Hauptfiguren schaffen nur noch klärende Zwischentitel, die Charakterisierung der zwölf (!) Hauptfiguren ist auf blumige Nicknames beschränkt, und auch der Erzähler, der streetsmarte Boxpromoter Turkish, hat sich irgendwann in dem halsbrecherischen Geflecht aus Haupt- und Subplots verloren. Objekte übernehmen schon früh die Funktion des Handlungsleitfadens, perfektioniert in der dynamischen Vorspannsequenz: Die Stimmigkeit der Bildercollage entsteht durch den Transport der Objekte (Diamant, Geld, Waffen) von Person zu Person.

Der poststrukturalistische Gangsterfilm hat mit „Snatch“ seinen Schlusspunkt erreicht, die Figuren sind endgültig zu Funktionseinheiten degradiert. Ihre Handlungen sind coole Flashs, die Worte redundantes Rauschen, der Tod ist eine Performance. Die Londoner Unterwelt ist in „Snatch“ ein bunter Themenpark zwischen Foltergarten und Knochenmühle. Ein Toter ist ein Toter ist ein Toter. Der Rest wird an die Schweine verfüttert. Box- und Agrarkultur – beides ist vor die Hunde gekommen. Ein Drecksjob. Diamanten sind da schon ein ganz anderes Kaliber, ihr reines, warmes Funkeln wirft einen erhabenen Glanz auf die verkommenen Subjekte, bevor die Szenerie im Blut versinkt. Franky Four Fingers sieht beim Überfall auf das Diamantendepot noch wie ein lässiger Siegertyp aus; später reist seine abgetrennte Hand als notwendiges Übel am Geldkoffer mit, in dem sich der unbezahlbare Klunker befindet. Auch die Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit ist Ritchie nicht mehr als einen trockenen Einzeiler wert. So lange, wie man braucht zum Sterben.

Manchmal kann das Sterben allerdings auch etwas länger dauern. Dann hebt Ritchie die Zeit aus den Angeln und umkreist den Moment des Todes aus allen Perspektiven und gegen die Zeitachse, bis sich aus den einzelnen Fragmenten langsam ein Bild zusammenfügt. Es steckt wirklich eine besonders sarkastische Härte in dem Tod von Boris the Blade. Bezeichnenderweise setzt die furioseste Zerstückelung der Zeit bei Ritchie aber genau in dem Augenblick ein, in dem die verschiedenen Handlungsstränge erstmals an einem Ort zusammenlaufen. Die hysterischen Diamantenjäger und die panischen Boxpromoter – „Unterschätz niemals die Vorhersehbarkeit von Dummheit!“, so Vinnie Jones, der Blutgrätscher.

Wohl kaum ein Regisseur hat den visuellen Anarchismus der Tex-Avery-Cartoons bisher so konsequent umgesetzt wie Guy Ritchie: Mit „Snatch“ reduziert er Kino wieder auf eine Abfolge von Bewegungen und Images. Alles verflüchtigt sich unter der unglaublichen Beschleunigung seines formalistischen Potpourris. Das stroboskopartige Aufblitzen der berauschten Leere lähmt die Sinne. Ritchie brennt.

„Snatch – Schweine und Diamanten“. Regie: Guy Ritchie. Mit Brad Pitt, Benicio Del Toro, Vinnie Jones u. a., 102 Min., USA 2000