Einsam im Club der digitalen Dichter

Das Internet ist eigentlich ein Textmedium. Trotzdem werden literarische Texte nur selten dafür geschrieben. Noch seltener werden sie gelesen. Die digitalen Poeten aus Leidenschaft bleiben allein in ihrem Netz, anerkannte Autoren wollen am Ende doch lieber auf Papier gedruckt werden

„Ich lese Mark Leyner und Jean Baudrillard gleichzeitig, auf dem Schoß ein Exemplar von Wired, Hypertext von Carolyn Guyer auf dem Monitor, . . . während ich mir „Dirty“ von Sonic Youth anhöre, ganz, ganz laut aufgedreht.“ Mal abgesehen davon, dass man bei Musik von Sonic Youth eigentlich an nichts anderes mehr denken will – der Webpoet Lance Olsen scheint ein Meisterleser der Netzliteratur zu sein, der Gleichzeitigkeit nämlich, der multimedialen Interaktion und der nichtlinearen Erzählstrukturen.

Aber hat schon jemand etwas von Lance Olsen gehört? Oder gar gelesen? Rein ins Netz dichten viele, und auf zahlreichen Homepages wird vermeintlich Literarisches angepriesen. Eine Art digitaler Schriftstellerverband der tapferen Schreiberlein ist zum Beispiel der Internetliteratur-Webring www.bla2.de. Als neue Kunstform konnte sich die Netzliteratur bislang jedoch nicht etablieren.

Warum das so ist, wurde jetzt am Rande der Leipziger Buchmesse im Rahmen der „ersten leipziger hypertext mustermesse“ (www.le-txt.de) mit Leidenschaft diskutiert. Als Zuhörer fühlte man sich dabei an die frühen 90er-Jahre erinnert. Schon damals fand eine rege Debatte über das junge Genre und eine intensive Suche nach einem neuen Literaturbegriff statt. Und auch in Leipzig wurde schnell klar: Bevor über die Qualität von Digi-Poesie gesprochen werden kann, muss eine Definition her.

Der erste Schritt leuchtet ein: Netzliteratur ist nicht einfach Literatur im Netz. Stephen King, der einen Roman kapitelweise ins Internet stellt, ist demnach kein Netzschriftsteller. „Netzliteratur muss etwas tun, was im Buch nicht geht“, erklärt der Literaturwissenschaftler Florian Cramer. Sie unterscheide sich in Form und Enstehungsprozess von druckbarer Literatur. Was er meint, lässt sich an seinem Textgenerator „Permutationen“ unter http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/index.cgi überprüfen. Vorgefundene Texten bilden nach dem Zufallsprinzip neue Wort- und Buchstabenkombinationen. „Das ist ein hochinteressantes Stück Literatur“, findet er.

Spätestens jetzt stellt sich Verwirrung ein: Einerseits betonen die Netzliteraten ihre ästhetische Eigenständigkeit – andererseits wird die gebräuchliche Terminologie computergenerierter Textschnipsel angewendet. Auch Quelltexte, Netzwerkprotokolle und Computerviren lassen sich demnach unter diesen Literaturbegriff fassen. Oder Texte, die im Kollektiv entstehen – wo jeder zum Autor wird und ein bisschen mitschreiben darf.

Doch besteht kein Grund zur Aufregung – wirklich revolutionär ist das nicht: Im Netz wiederholt sich bloß die Literaturgeschichte. Die konkrete Poesie spielte mit Worten statt mit Sinn, die „écriture automatique“ nutzte den Zufall als schöpferisches Moment, und in den 60er-Jahren prägte Julia Kristeva den Begriff der „Intertextualität“, der die Referenz eines Textes zu einer Vielzahl anderer Texte beschreibt. Das Buch war schon eher ein Textuniversum als der Cyberspace.

Aber die Unkonsumierbarkeit ihrer Werke nehmen die Web-Poeten in Kauf. Über ein paar Klicks in der Woche ist der Hypertext-Utopist Heiko Idensen bereits glücklich. Er beschäftigt sich seit Anfang der Neunzigerjahre mit gemeischaftlichen Schreibprojekten, auch wenn die Leidenschaft der Autoren kaum Leser findet. Es kann nicht nur daran liegen, dass es sich am Bildschirm so ungemütlich liest. Denn das Internet ist eigentlich ein Textmedium; die wichtigsten Informationen erhält man nicht durch Bilder, sondern durch Wörter. Vermutlich steckt jedoch der Teufel genau in diesem Detail, nämlich in der Sprache. Sie ist das Material der Literatur, das sich auch durch interaktive Zusätze nicht aufpolieren lässt. Anders als die Netzkunst, die sämtliche multimedialen Möglichkeiten nutzen kann, ist Literatur auf die Worte angewiesen. Die kann man zwar ein bisschen rütteln und schütteln, eventuell auch in Gemeinschaftsarbeit – doch was den Netzdichtern Spaß macht, ist für den Rezipienten in der Regel nicht interessant. Und so ist das Internet kein wirklich geeignetes Medium für lesbare Literatur, sondern bloß ein riesengroßes Brachfeld, in dem jeder Hobbyliterat veröffentlichen kann.

Trotzdem schreiben auch immer wieder namhafte Schriftsteller in die digitale Diaspora hinein. Elfriede Jelinek zum Beispiel. Bereits 1993 erschien sie mit „Trigger your Text“ im WWW – einer interaktiven Installation mit einigen Kapiteln aus ihrem Theaterstück „Wolken.Heim“ – einem Text also, der nicht eigens für das Internet verfasst ist. Etwas netzorientierter war der Internetauftritt von Matthias Politycki. 1997 schrieb er auf der Homepage der ZDF-Sendung „aspekte“ das vierte Kapitel seines „Weiberromans“ zu Ende. Der User konnte die Entstehung des Textes mitverfolgen und in einem Forum diskutieren. Ein halbwegs interaktiver Ansatz, der aber keinen Einfluss auf das Geschriebene hatte. Und: Bereits vor der Aktion stand fest, dass der Text am Ende als Buch erscheinen sollte. Politycki war sicher kein überzeugter E-Poet, sondern ein bekannter Autor, der sich auf eine Spielerei einließ. Selbst Rainald Goetz, der ein Jahr lang jeden Tag seine Beobachtungen und Erlebnisse im Netz platzierte, nutzte in keiner Weise die multimedialen Vorzüge des Web – kein Link, kein Bild, kein Ton. „Abfall für alle“ wuchs zu einem Text, der ohne weiteres nach Ablauf der Jahresfrist als Buch gedruckt werden konnte.

Anerkannte Schriftsteller wollen sich offenbar kaum von der traditionellen Form und dem gedruckten Ziel distanzieren. Und selbst digitale Schreibprojekte jüngerer Autoren – zum Beispiel Thomas Hettches „Null“ oder der Schreibertreff im Netz unter www.ampool.de unter der Betreuung von Elke Naters und Sven Lager – streben irgendwann raus aus dem Netz und erscheinen als Buch.

Eher gut gemeint als gelungen scheint denn auch Thomas Tumas Internetthriller „Chat“, von dem bei Spiegel-Online jeden Montag ein neues Kapitel zu lesen war. Der Text wurde mit Bildern aufgerüscht, Romanfiguren konnten angemailt werden, und die Textgenese begleitete ein Leserforum, in das sich auch der Autor gelegentlich einmischte. Der interaktive Ansatz scheiterte jedoch am Text selbst, der einfach tödlich langweilig war.

Womit sich die nächste Frage stellt: Wie sieht es mit der Qualität der Netzliteratur aus? Und auch darüber lässt sich natürlich streiten. Aber das Schicksal des Zeit-Internetliteraturpreises beweist: Viel zu prämieren gibt es nicht. Nach dreimaliger Auslobung wurde die Auszeichnung 1998 eingestellt. Internetliteratur konnte die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Jurymitglied Erhard Schütz etwa schrieb 1997 in der taz über die „Mätzchen der Poesieälbler“ und bezeichnete die digitalen literarischen Auswürfe als „Florilegium der Primanerpoesie“.

Zwei extreme Positionen stehen sich also im Reich der Hypertexte gegenüber: Voll Idealismus und unermüdlich produzieren die E-Poeten, immer bemüht, eine neue Kunstform zu etablieren. Doch auf Anerkennung müssen sie nach wie vor verzichten. Netzliteratur schreiben ist immer noch ein Privatvergnügen, Netzliteratur lesen noch nicht mal das. Aber natürlich gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel Nika Bertram, die gerade mit ihrem Roman „Der Kahuna Modus“ debütierte – in gewissem Sinn ein Stück Netzliteratur, denn inhaltlich spielt der Cyberspace eine große Rolle. Zusätzlich bietet die Autorin unter www.kahunamodus.de ein Rollenspiel an, in dem die Leser den Personen aus dem Buch begegnen können. Eine gelungene Kombination von Literatur und Interaktivität. Von der reinen Netzdichterei hält aber auch Bertram wenig. Literatur als Kollektivergebnis erinnere sie an die Männchen, die man früher gemeinsam gemalt hat: einer die Füße, der nächste die Beine, Bauch und Kopf wieder ein anderer. „Das Ergebnis war nie besonders schön.“ JUTTA HEESS

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