DIE NEUEN ZWANGSMASSNAHMEN IN DER NEIDGESELLSCHAFT
: Verordnetes Glück

Die alte und die neue Mitte wehren sich. Gegen Ausländer, denen es am nötigen Eifer fehlt, Deutsch zu lernen. Gegen Arbeitslose, die sich weigern, Billigjobs anzunehmen. Seit zwei Wochen wird parteiübergreifend darüber diskutiert, wie viel Zwangsmaßnahmen eine glückliche Gesellschaft braucht. Zwischenbilanz: eine ganze Menge.

Nun könnte man sich gelassen zurücklehnen und denken: Auch diese Debatte wird an uns vorüberziehen. Es ist schließlich nicht der erste Angriff auf die Arbeitslosen, Müßiggänger und Einwanderer. In schöner Regelmäßigkeit spielen Unternehmensverbände, Handwerkskammern, Konservative und auch Sozialdemokraten diese Leier: Wir lebten schon heute im Vorgarten von Eden, wären da nicht die Faulen und dieses Ausländerproblem.

Glücklicherweise gibt es Widerworte. Und jene, die Ideen entwickeln, wie eine sinnvolle Integration von Einwanderern ohne Repressionsmaßnahmen gelingen könnte. Die wissen, dass nicht die Arbeitslosen und lernunwilligen Türken die Gesellschaft bedrohen und spalten, sondern immer noch das Kapital die gesellschaftlichen Grundbedingungen diktiert.

Aber diese Stimmen können nicht darüber hinwegtäuschen: Je reicher das Land wird, desto geschlossener formiert sich die Neidgesellschaft. Strenger als in der Vergangenheit wacht die Mehrheit darüber, dass nur der etwas bekommt, der es ihrer Meinung nach auch verdient hat.

Die Neidgesellschaft, die schon immer auf Sanktionen und Ausgrenzung sozialer oder ethnischer Gruppen zur Absicherung ihrer Privilegien gesetzt hat, hat inzwischen Zulauf bekommen. Denn viele, die in den Achtzigerjahren Paul Lafargues „Recht auf Faulheit“ verschlungen haben und für die der Ratgeber „Lieber krank feiern als gesund schuften!“ Lebenseinstellung war, haben inzwischen die Fronten gewechselt. Aus nicht wenigen der einstigen Internationalisten und Salonrevoluzzer wurden wohlhabende Erben. Verbissen verkrallen sie sich in ihren neuen Reichtum, den es gegen Ansprüche von unten abzusichern gilt.

„Tabufrei diskutieren“ nennt sich dieser Prozess. Und so beschäftigt heute auch die Welt rund um die taz häufig weniger institutioneller Rassismus und seine Folgen oder die Frage: Wie und was wollen wir produzieren? Diese neue Mitte glaubt plötzlich zu entdecken, dass manche Menschen gar nicht arbeiten wollen und deshalb zu ihrem Glück gezwungen werden müssen. Und nach eingehender Betrachtung der Dinge kommt sie zu dem Schluss: Genau besehen ist der Türke ohne Druck nicht so recht integrationswillig. EBERHARD SEIDEL