Besseres Leben klingt gut

Kurze Schnitte, großes Kino und alle Zeiten superfest im Griff: Norbert Zähringers gelungener Debütroman „So“

Ein klassischer Abschied, wie man ihn gleichermaßen aus Groschenheften und Weltliteratur kennt: Robert Schulz sagt zu seiner Frau, dass er kurz nach draußen eine rauchen gehe, und taucht dann nicht wieder auf. Nicht bei seiner Frau und auch nicht in Norbert Zähringers Debütroman „So“, in dem auf den ersten beiden Seiten mittels eines kubanischen Drei-Peso-Stücks, das Schulz in einen Zigarettenautomaten wirft, nahezu übergangslos ein ganzer Haufen Leute vorgestellt wird. Bis auf den Bankangestellten Cordt Gummer allerdings wird niemand dieser Leute eine größere Rolle mehr spielen.

Der Takt des Romans ist damit früh vorgegeben, das Personal wird ein großes und unüberschaubares sein, und das Verschwinden von Robert Schulz dient Zähringer ausschließlich dazu, sein Thema vorzustellen: Es geht ihm um die großen und kleinen Fluchten, um die vielen Abschiede und die wenigen Neuanfänge, um die Sehnsucht der Menschen nach einem anderen Leben und ihre scheinbar unerschütterliche Gewissheit: There must be a better life. Einer Gewissheit, der sich wiederum nur zu oft die Einsicht in den Weg stellt, wie schwer es doch ist, seinem Schicksal neue, entscheidende Wendungen zu geben.

Das alles klingt jetzt allerdings ernster und dramatischer, als es sich bei Zähringer liest. Denn der 1967 in Stuttgart geborene und heute in Berlin lebende Schriftsteller erzählt seine zahlreichen Geschichten von den eher unglücklichen als glücklichen und zumeist kleinen Leuten, von Angestellten, Arbeitern, Arbeitslosen und aus der Bahn geworfenen, mit leichter Hand: manchmal lakonisch, manchmal beiläufig-ironisch, und immer so, als würde er sich lustig machen über seine Figuren (im Stich aber lässt er sie nie!)

Manche von Zähringers Geschichten ziehen autonom ihre Bahnen, andere sind zu Ende, bevor sie richtig angefangen haben, wieder andere halten das bis ins Detail durchkomponierte Buch zusammen und werden ausführlicher erzählt: Wie etwa die des namenlosen Direktors der Bank, der vielleicht als Werner Schmidt geboren wurde, vielleicht aber auch nicht, und der bei einem Anschlag nur mit dem Leben davonkommt, weil er einmal selbst der Chauffeur seines Wagens sein wollte. Oder die von Cordt Gummer, dem eigentlichen Helden des Buchs. Auch Gummer überlegt sich jeden Tag, wie es wäre, einfach nicht auszusteigen aus der U-Bahn und das alte Leben hinter sich zu lassen. (Nur einmal gelingt es ihm: Da ist er für anderthalb Stunden Plakatkleber.)

Immerhin wird Gummer eines Tages befördert. Er wird Leiter einer Filiale, die sich in einem Wellblechcontainer auf einem ehemaligen Industriegelände befindet. Eine Umgebung, in der großartige Bankgeschäfte nicht gerade zum Alltag gehören und Leute zu Hause sind wie Emilia Urchs, die einen Waschsalon führt, der gleichzeitig Kneipe ist, wie die alternde Prostituierte Iris Puh, der gescheiterte Broker Bernie Morgen oder Hugo Stenz und Willy Bein, beide ehemalige Arbeiter der vormals auf dem Bankgelände sich befindenden Glühlampenfabrik. Da so wenig los ist, denkt sich Gummer, der durch den Karriereschub seine Einzimmerwohnung verliert und bald in dem Container auch wohnt, Kunden wie die Scheidungsanwältin Dr. Scherer oder den Major a. d. Stein aus.

Souverän wie Zähringer ist – der Erzähler ist alles, die Figuren sein Spiel –, erzählt er dann auch, wie es Stein ergangen ist im Ersten Weltkrieg, seinem Sohn im Zweiten und seinem Enkel in einem kommenden Krieg. Zähringer greift vor und kommt gemächlich wieder zurück, er blendet ein und wieder aus, erzählt parallel und ineinander übergehend: Über ein Bild in einem China-Imbiss, das sich der Exterrorist Guevara anschaut, gelangt er auf ein Schiff, das in den Vierzigern von China nach Frankreich fährt, wo die beiden auf dem Bild abgebildeten Chinesen die Leichen deutscher Soldaten wegschaffen müssen. Schließlich wieder zurück ins Berlin der Neunziger, wo Willy Bein einen Tunnel unter den Bankcontainer gräbt und sein Tun sich mit den panzerknackenden Haas-Brüdern aus dem Berlin der Dreißiger- und Vierzigerjahre verwebt.

Manchmal erinnert Zähringers Buch an einen überlangen Videoclip, manchmal, besonders in den Passagen aus dem Bankangestelltenleben, an Kafkas „Schloß“ oder an den Film „Hudsucker“ von den Coen-Brüdern (allerdings mit Jack Lemmon in der Hauptrolle). Berlin mag der Schauplatz des Buchs sein, drängelt sich aber nie nach vorn (wenn das nicht ein guter Berlin-Roman ist!), und bei allen Ortswechseln wirkt „So“ merkwürdig hermetisch und aus der Zeit gefallen. Es ist wie bei Willy Bein, der sich den Keller, in dem er zeitweilig haust, mit Uhren vollstellt. Manche gehen vor, manche gehen nach, Willy will das so, er hofft damit „nicht nur die Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und Zukunft, also die Zeit an sich wieder in den Griff zu bekommen“. Zähringer aber gerät sein fulminantes Buch nie aus den Fugen, er hat es fest im Griff: Kurze Schnitte, großes Kino, in weiter Ferne so nah.

GERRIT BARTELS

Norbert Zähringer: „So“, Alexander Fest Verlag, Berlin 2001, 400 Seiten, 44 DM