Der unbewältigte Knacks

Es ist eine gebrechliche Welt in einer Zeit, die – ach! – vor Nichts-ist-unmöglich-Versprechen strotzt! Hansjörg Schertenleib erzählt von Jugendqualen und literarischer Verarbeitung: „Von Hund zu Hund“

von GISA FUNCK

Eine unverdaute Vergangenheit machte den Helden des Schweizer Autors Hansjörg Schertenleib schon oft zu schaffen – inklusive des Sprengpotenzials, das solchen Verdrückungen innewohnt. Während Jugenderinnerungen den Erzähler im ersten Roman „Ferienlandschaft“ noch schlicht betrübten, entwickelten sie in den Nachfolgern zunehmend fatale Dynamik: Im „Zimmer der Signora“ erlag der junge Stefano den erotischen Quälereien einer ehemaligen Spielgefährtin. Im letzten Buch „Die Namenlosen“ wurde die Katholikin Christa aus enttäuschter Teenieliebe zu einem Geistlichen gar zur Kirchenterroristin. Und auch im neuen Band „Von Hund zu Hund“ liegt der Handlung eine unverwundene Kränkung zugrunde, diesmal allerdings mit weniger spektakulären Auswirkungen.

Zwei Jugendfreunde sehen sich nach vielen Jahren in einem Schweizer Dorf wieder. „Nach der Schule haben sie sich aus den Augen verloren, das ist nicht außergewöhnlich“, meint der eine lapidar, aus dessen Perspektive zunächst erzählt wird. Er hat seinen alten Nachbarn Xaver „nicht vermisst“. Schämte er sich doch meistens für den schrulligen Sohn des Dorfapothekers, dessen Stimme „dünn und hoch war . . . wie ein Mädchen“, dessen Körper „schwabbelig“ – und der „an vielen Stammtischen [für] Gesprächsthema sorgte“.

So einen verspotteten Außenseiter betrachtet man besser nur aus sicherer Ferne, hockend auf einer Mauer oder versteckt hinter einem Dachbalken. Schertenleibs Rahmenerzähler ist ein geübter Voyeur, der sich schon bald mehr für die hübsche Mutter des Freundes interessierte, die er heimlich bei der Morgengymnastik beobachtete. Xaver reagierte auf diese Missachtung tief verletzt. Das beweisen seine zehn selbst geschriebenen Geschichten, die er dem einstigen Kumpel in einem Koffer überlässt, bevor er zum allerersten Mal allein verreist. An diesem Punkt wandelt sich der Erzähler zum kommentierenden Rezipienten. Ein bewährter Kniff, um einem Autor auf die Schliche zu kommen. Was Xaver angeht, so lässt sich schnell enttarnen: Er gehört zu jener Sorte Schriftsteller, die sich in Tonio-Kröger-Manier ihr Leid von der Seele schreiben. Seine Aufzeichnungen kann man lesen wie ein letztes Geständnis an den ehemaligen Kameraden, der für ihn bereits auf dem Bolzplatz so unerreichbar war, dass er ihm den Ehrentitel „Eusebio“ verlieh.

Erzählen ist für Xaver Therapie, um seine Enttäuschung loszuwerden. So schildert er etwa einen Südfrankreich-Urlaub, den beide Jungen wirklich einmal gemeinsam verbracht haben. Die Villa, von der die Rede ist, war zwar nur ein schnödes „Reihenhäuschen“. Aber dass der Freund damals mit seinen Blicken der Mutter folgte, ist Xaver keineswegs entgangen. Und wenngleich seine Episoden quer verstreut in Europa spielen, so ähneln ihm doch alle Protagonisten darin, dass auch sie an einem unbewältigten Knacks laborieren: eine fristlose Kündigung, die Schuld am Tod des eigenen Kindes, eine herrische Mutter, ein mutloser Vater.

Wie ihr Schöpfer sind es Gedemütigte, die an einer Vergangenheit leiden, die „düster und groß [ist] wie eine Kathedrale“. Weglaufen nützt ihnen wenig. Im besseren Fall verhilft es zu einem „leeren Kopf“. Im schlechteren landen sie schreiend und halbnackt auf einem Balkon. In jedem Fall aber holt sie selbst im schottischen Regenkaff Dervaig der „alte Vorwurf“ noch ein. Und spätestens an einem Sterbebett können sie der beunruhigenden Wahrheit ihrer existenziellen Ungeborgenheit nicht entfliehen. „Ich bin nicht verrückt, sondern einsam. Das ist nicht dasselbe“, erkennt der gefeuerte Sekretär Dietmann.

Was bleibt, ist ein Trotzdem, ein Ringen um Würde, auch wenn man zu den Verlierern gehört. „Ein lebender Hund“, bilanziert Xaver selbst, „hat es jedenfalls besser als ein toter Löwe.“ Schertenleib beschwört also sozusagen das Kleist’sche Bild einer gebrechlichen Welt in einer Zeit, die demgegenüber vor Nichts-ist-unmöglich-Versprechen strotzt. Und als wäre ihm das selbst ein wenig unheimlich, verklausuliert er das Ganze dann stellenweise leider arg unnötig. Da streut er bizarre Traumbilder ein und lässt vor allem Xavers erste Geschichten allzu abrupt enden. Das mag als Analogie auf die radikal gebrochene Freundschaft gedacht sein, wirkt aber genauso ärgerlich wie ein effektvoll inszenierter Film, der mittendrin abbricht.

Dass man dennoch gebannt weiterliest, liegt am Erzählvermögen des in Irland lebenden Autors. Schertenleib weiß genau, wie viel er mit schlichten Worten sagen muss, um eine Situation zu skizzieren, ohne zu früh zu viel zu verraten. Tatsächlich ist er ein romantischer Melancholiker, der schnörkellos von den Kompensationsversuchen einer verlorenen Unschuld erzählt. Wobei er der Literatur erstaunliche (Heil-)Kräfte zuspricht. Die Lektüre der Geschichten beeindruckt „Eusebio“ im Buch schließlich dermaßen, dass plötzlich er es ist, der sich nach Xaver sehnt, „wie er sich früher nach seiner Frau gesehnt hat“.

Hansjörg Schertenleib: „Von Hund zu Hund“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 227 Seiten, 36,80 DM