Ein Anarchist mit Prinzipien

Hoffnungslos unreformierbar: Klaus Schlesinger, der am Freitag gestorben ist, war ein proletarischer Schriftsteller, der immer so frei war, sich weder im Osten noch im Westen anzupassen. Ein Nachruf

Schon als Ost-taz-Geschäftsführer war ihm die West-taz als zu angepasst erschienen

von MICHAEL SONTHEIMER

In jenem wilden Westberliner Sommer 1981, als er im K.O.B und anderen Schöneberger Hausbesetzerkneipen auftauchte, wunderte sich niemand weiter über den Mann mit dem grauen Vollbart und den langen Haaren. Er hieß Klaus, sprach mit einem schönen Berliner Akzent und war zwanzig Jahre älter als wir. Als guter Kumpel erwies er sich, manchmal auch als väterlicher Freund.

Es passierte zu viel im Häuserkampf, als dass wir sofort verstanden hätten, dass Klaus Schlesinger aus einer anderen, für uns exotischen Welt kam – auch wenn die nur gut einen Kilometer weiter begann, am Potsdamer Platz hinter der Mauer. Er hatte noch seinen blauen DDR-Pass und im Gegensatz zu den gewöhnlichen Zonis wollte er keinen grünen Westpass.

In die USA war er gereist, aber Amerika hatte ihn bald gelangweilt. Auch später wurde der Westen ihm nie eine wirkliche Heimat, dafür hatte er ein zu starkes Gefühl für Gerechtigkeit. Die Wahl zwischen BRD und DDR, schrieb er mal, komme ihm vor wie die zwischen Pest und Cholera.

Die Wohnung im bürgerlichen Charlottenburg überließ er seinem ältesten Sohn, zog in ein besetztes Haus in der Potsdamer Straße und stürzte sich in das Chaos des kollektiven Lebens. Dass er nicht nur Schriftsteller war, sondern auch wunderschön lesen konnte, mit seiner von zahllosen Gauloises verrauchten Stimme, wurde uns erst bewusst, als er ein paar Kapitel einer Erzählung in unserer Gemeinschaftsküche vortrug, die später als „Matulla und Busch“ erschien.

Bald konnte man Klaus regelmäßig abends in der taz treffen. Zusammen mit seinem Kollegen Hans-Christoph Buch produzierte er die „Literataz“, eine unabhängige Beilage mit Texten von Schriftstellern. Schließlich hatte er die taz schon unterstützt, bevor es sie überhaupt gab. Für den „Prospekt: tageszeitung“, der 1978 – ein Jahr vor dem Start der taz – erschien, hatte ihn sein Freund Christian Ströbele in Ostberlin zum Projekt einer linken Tageszeitung interviewt.

Als er nach dem Fall der Mauer für kurze Zeit als Geschäftsführer der Ost-taz firmierte, war ihm die Westausgabe schon zu angepasst, politisch wie ästhetisch. Dass die Ost-taz schnell wieder eingestellt wurde, zeigte ihm, dass auch die Westlinken die Vereinigung nach dem Muster „West übernimmt Ost“ praktizierten. Nicht nur wie, sondern dass die DDR überhaupt unterging , empfand er als persönlichen Schlag. Obgleich er Honecker und Mielke aus ganzem Herzen dafür hasste, dass sie dem Sozialismus als Gefängnis reale Gestalt gegeben hatten, der notorisch Unbehauste verlor ein mögliches Rückzugsgebiet.

Die härteste Zeit für ihn nach der Wende kam, als Helga Nowak und Wolf Biermann – völlig haltlose – Gerüchte verbreiteten, nach denen er der Stasi als Informant gedient habe. In Tat und Wahrheit hatte er drei Anwerbungsversuche zurückgewiesen, und die Stasi hatte ihn im Rahmen des Operativen Vorgangs „Schreiberling“ intensiv überwacht.

Die schwarze Ironie der bösen Verleumdung: Als MfS-Offiziere einen „Zersetzungsplan“ gegen ihn und seine damalige Frau Bettina Wegner entwarfen, wollten auch sie das Gerücht streuen, dass er bei der Stasi berichte, um ihn unter seinen Kollegen und Freunden zu isolieren.

Klaus Schlesinger war ein viel zu integerer Mensch, um für einen Geheimdienst zu spitzeln. Er war Sozialist, mehr noch Anarchist, auf jeden Fall hatte er strikte moralische Prinzipien. Zudem besaß er etwas, was mittlerweile sehr selten geworden ist: Klassenbewusstsein. Er wuchs in der proletarischen Dunckerstraße im Prenzlauer Berg auf, sein Vater arbeitete als Expedient bei Ullstein. Dass er als kleiner Chemielaborant Schriftsteller werden konnte, sagte er immer wieder, sei nur in der DDR möglich gewesen. Er hätte vor dem Bau der Mauer abhauen können, aber entschied sich dafür, in der DDR zu bleiben.

Später wurde er zu einem im Osten raren Typus, einem Achtundsechziger. Im Rahmen einer klandestinen – aber von der Stasi überwachten – Solidaritätsaktion beschaffte er Bauhelme für die Westberliner Studenten, damit diese ihre Köpfe gegen die Polizeiknüppel schützen konnten. In seiner rebellischen Einstellung und Parteilichkeit für Minderheiten und Schwächere war er hoffnungslos unreformierbar. Darin, dass er sich weder im Osten noch im Westen den Mund verbieten ließ oder anpasste, ähnelte er seinem Kollegen und Freund Stefan Heym.

Es war ein Vergnügen, mit ihm zu diskutieren; ob es allerdings um Fußball ging oder um Literatur, irgendwann kam er beim Ost-West-Vergleich an. Die Menschen der surrealen Doppelstadt Berlin im Kalten Krieg waren sein Lebenselixir und der Stoff seiner literarischen Arbeit. Er erlebte die Stadt als Kind ungeteilt unter den Nazis, später geteilt, zermauert und wieder zusammengeworfen. Zieht man um den Alex einen Kreis mit einem Radius von vier Kilometer, so umfasst dieser alle entscheidenden Orte seines Lebens.

Vor sechs Wochen saßen wir in seiner Wohnung in der Torstraße zusammen. Wir tranken Kaffee, qualmten – und landeten bei Ost-West-Vergleichen. Klaus war schon körperlich zerbrechlich, abgemagert, blass, aber seine Augen blitzten, und er erzählte auf seine so lebendige, wunderbar Art. Zum Beispiel von seinem Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Die Liebe in den Zeiten der volkseigenen Betriebe“. Und auf die Liebe hat sich Klaus auch verstanden.

Michael Sontheimer, 46, war Mitbegründer, Anfang der Neunzigerjahre auch Chefredakteur der taz und ist heute Korrespondent des „Spiegel“ in London. Nach der Wende wohnte er mit Klaus Schlesinger in einer besetzten Wohnung in Berlin-Mitte.