Virtuelle Streitgespräche

68er im Wartestand (Teil I): Eigentum ist Diebstahl, sagt B. aus Berlin. Meistens raucht er Hasch und ärgert sich über Verdummung durch Techno

68 und die Revolutionsträume der 70er sind Mythen, die nicht nur B. ständig wiederholen muss

B. ist 68er. Nachts hockt er oft rauchend auf einem Stuhl im Wohnzimmer und starrt auf seinen kleinen Fernseher, der vor ihm auf einem Stuhl steht. Der Ton ist meist aus und er sieht aus wie ein Vogel oder der Späher irgendeines Stammes, wenn er im Halbprofil dunkel gekleidet im Licht des Fernsehers auf seinem Stuhl hockt und den Rauch aus seiner Pfeife zieht. Alles ist still und wirkt ein bisschen melancholisch. Die Wohnung von B. ist auf eine studentische Art gemütlich und eher provisorisch eingerichtet. Hierbleiben ist nirgends und dem Revolutionär liegt es fern, sich in den herrschenden Verhältnissen einzurichten. Ein Teil der Möbel – Schrankwand, Teppiche, Vorhänge und ein altes, zum Sofa umgebautes Bett – stammen noch von seinen Vormietern, die anderen Möbel haben ihm Freunde geschenkt. Auf dem Boden stehen ein paar Platten vor allem aus den 60er-Jahren, im Regal ausschließlich geschichtliche Bücher. Romane sind was für Idioten. Auf einer Anrichte ein Blumentopf, in dem sich eine Grünpflanze heldenhaft gegen die Vernachlässigung wehrt. Im Topf stecken eine Fahne von Eintracht Frankfurt und ein Wimpel der Roten Hilfe.

Dass B. ein 68er ist, ist mir eigentlich erst in diesem Jahr klar geworden. Zuvor hatte ich den Asta- und Rote-Hilfe-Aktivisten der späten 70er, der 68 grad mal 12 war, eher den Kiffern und Spontis zugeordnet. Doch 68 hat ja nicht nur die geprägt, die damals Studenten waren; sondern ebenso die, die mit den ideologischen und lebenstechnischen Versatzstücken von 68 aufgewachsen sind. Der Einfluss, den Ereignisse, bei denen man nicht dabei war, auf das eigene Lebenskonzept ausüben, ist vielleicht sogar noch größer als der von Ereignissen, bei denen man dabei war. Wie auch immer: B. ist 68er.

Früher war er mal Lehrer und auch kurzzeitig bei den Grünen beschäftigt. Dann hat er immer so viel getrunken und wurde krankheitshalber arbeitslos. Die Bauchspeicheldrüse wollte nicht mehr. So verlegte er sich aufs Haschrauchen. Alle paar Jahre kommt mal eine ABM vorbei. Ansonsten lebt er als Revolutionär im Wartestand. Manchmal erzählt er, wie lustig es Ende der 70er im Asta war. Da hätten sie sich vorgestellt, wie die ob ihrer wunderbaren revolutionären Politik enthusiasmierten Massen an ihnen vorbeidefilieren und wie sie so Honecker-mäßig den Massen zurückwinken würden. Für das herrschende System hat er nur Verachtung übrig, seine früheren politischen Aktivitäten hält er aber auch eher für Unsinn, aktuelles politisches Engagement kommentiert er oft mit Sarkasmus. Wenn er Nihilist wäre, hätte er es einfacher, doch er glaubt sozusagen, ohne dass sein Glauben irgendeinen Inhalt hätte, denke ich manchmal.

Mein Freund ist stolz darauf, sich noch nie ein Möbelstück gekauft zu haben. Sein jährlicher Kleidungsetat liegt schätzungsweise bei 50 Mark. Von der Arbeitslosenunterstützung kauft er sich vor allem Haschisch, ab und an die FAZ, konkret und was zu essen, und eigentlich sind wir seit Jahren die besten Freunde. Wir rauchen Joints, spielen Schach, gucken Fußball und erzählen uns was. Die Gespräche mit ihm sind meist sehr interessant, weil M. ein beeindruckendes geschichtliches Wissen mit zwei, drei Spezialgebieten hat. Trotzdem kommen unsere Unterhaltungen immer wieder an einen Punkt, wo nichts mehr geht. Manchmal sind es nur einzelne Worte, die mich dann plötzlich nerven. Wenn man ihm erzählt, man würde jemanden in Istanbul besuchen, sagt er etwa „dann kannst du ja S. prima plündern“, weil S. ja da wohnt und die Stadt kennt und einen rumführen kann. Ich hasse den Ausdruck „plündern“, weil ich S. nicht besuchen würde, damit sie mich in Istanbul herumführt, sondern weil ich sie mag. Oder er beginnt plötzlich lange Vorträge zu halten, in denen er beweist, dass Musik die Menschheit verdummen und in ihrem Emanzipationsprozess behindern würde und überhaupt furchtbar langweilig sei. Man wisse doch immer schon, was dann kommt, nach den ersten Tönen irgendeines Lieds. Das kann Stunden gehen, in denen man selber kaum mehr als „aha“ sagt und M. zuweilen regelrecht aggressiv wird.

Die Chance, dass meine Einwände bis zu ihm durchdringen würden, ist erfahrungsgemäß recht gering und solche Diskussionen sind ohnehin völlig unsinnig, denke ich, während er schon weiter ist, den Idioten rauskehrt und fragt: wie heißt denn diese Musik noch mal, die industrielle Geräusche imitiert mit Elektronik? Da sei es doch genauso – bumtschkabum, „eh lächerlich in einer Zeit der Deindustrialisierung“ – und jeder ein Lügner, der etwas anderes sage.

Und ich denke dann: Du meinst die Langeweile, aber das ist doch das absolut Gleiche in der Schrift oder wenn du was sagst und du weißt, was kommt, wenn du was sagst, und ich weiß, was kommt, und deinen Vortrag über Musik habe ich schon fünfzigmal gehört und du wirst ihn dir in deinen Nächten noch öfter vorgesprochen haben und das ist alles unheimlich banal, langweilig und gestört.

So unschön denke ich manchmal über meinen Freund und dass seine Verweigerung, seine ideologischen Vorträge und auch die alles andere als hedonistische Art, in der er sich dicht macht, ein Erbe ist von 68, dem er nicht entkommen kann; dass er da immer wieder hängen bleibt, wenn man mit ihm redet, und dass diese Fixierung sein ganzes Denken und Fühlen behindert.

Eigentlich ist er so ähnlich wie Flüchtlinge, wenn sie zum tausendsten Mal von ihrer Vertreibung erzählen. 68 und die existenzialistischen Revolutionsträume der 70er sind Mythen, die nicht nur er ständig wiederholen muss. Er kann ja auch nicht schlafen. Und wenn er nicht schlafen kann, führt er virtuelle Streitgespräche mit seinen Freunden über seine These etwa, dass Musik dumm macht.

In seinen virtuellen Streitgesprächen führen seine virtualisierten Freunde Argumente an, die er brillant widerlegt. In echt ist einem das eher egal, was er über Musik denkt, weil B. ja vor allem ein toller, kluger, gebildeter und höflicher Mensch ist und viel netter als all diese Gestalten, die als 68er so staatsmännisch durch Fernsehen wackeln. Und dass er Musik verabscheut, auch wenn er gleichzeitig zuweilen mit Kopfhörer alte Dylan-Platten hört, während er seine virtuellen Streitgespräche führt – egal.

Und neulich, als er mir seine Lieblingssongstellen von den Small Faces vorspielte – „a hippie tricky namedropper came to my door“, „working doesn’t seem to me/ a perfect thing for me“ und „so many bad ways to be good/ so many good things be bad“, da dachte ich, dass B. doch ganz eigentlich ein Beatnik ist.

DETLEF KUHLBRODT