Meister der letzten Chance

Als keiner mehr daran glauben mag, gelingt den Dusel-Bayern in Hamburg doch noch der 1:1-Ausgleich durch den Schweden Patrick Andersson – und damit die dritte Meisterschaft in Folge

aus Hamburg OLIVER LÜCK

Schon vor dem Anpfiff schenkte der Hamburger SV dem FC Bayern keinen Meter. Gekonnt wollte Busfahrer Rudi Egerer gerade das Münchener Mannschaftsgefährt rückwärts an den Eingang der Katakomben des Stadions rangieren, da erkannte sein Hamburger Pendant Jürgen Ahlert blitzschnell die Lücke – und parkte kurzerhand vor den Gästen zum 1:0 ein für den HSV.

Der Kampf um den Parkplatz hatte bis zur letzten Saisonsekunde Symbolwert: Denn auch auf dem Rasen machten die Hanseaten den Bajuwaren das Leben schwer. Offenbar wurde: Man wollte mit einem Sieg über die Bayern das Zünglein an der Waage zur deutschen Meisterschaft spielen. Und wie schon so oft bei Spielen im Volksparkstadion zeigte sich zunächst aber, dass die Witze mancher HSV-Fans doch eher der preiswerteren Art sind: Bayern-Keeper Oliver Kahn wollte sich gerade an seinen Arbeitsplatz zwischen den Pfosten begeben, da ging ein wahrer Bananenhagel über den 31-Jährigen nieder. Einiges an Obst sammelte sich im Tornetz an, und es dauerte Minuten, bis den Absendern die Südfrüchte ausgegangen waren und Ordner die gelbe Gefahr vom Platz geräumt hatten.

So konnte der finale Kick erst mit Verspätung angepfiffen werden. Und da die filigrane Fußballfibel an diesem Tag nicht verlesen wurde, lässt sich das Spiel, das von den über die Anzeigetafel vermittelten Zwischenständen aus Gelsenkirchen lebte, auf die Schlussphase reduzieren. Achtmal dröhnte der Torjubel durch den Volkspark, obwohl dort kein einziger Treffer erzielt worden war. Als der FC Schalke mit 4:3 in Führung ging, lag der Herzenswunsch von rund 45.000 Anti-Bayern unter den Zuschauern offen: „Auf geht’s,Hamburg – schieß ein Tor!“ Und es kam, wie das Volk forderte. 89. Minute: Flanke Heinz, Kopfball Barbarez: Schalke war Meister. Immerhin für knappe vier Minuten.

„Ein Buch hätte man von der Dramaturgie kaum besser schreiben können“, beschrieb HSV-Coach Frank Pagelsdorf den Schlussakkord. Da spitzelte Ujfalusis Bein das Leder zurück zu Schlussmann Matthias Schober. „Ausgerechnet der Ex-Schalker Schober“, hörte man Pagelsdorf später klagen, „im Herzen ist der doch immer noch ein Blauer.“ Anstatt den Ball aus dem Stadion zu bolzen und seinem einstigen Klub nach 43 Jahren endlich mal wieder die Meisterschaft zu schenken, kullerte das Rund in seine empfangsbereiten Arme. Schiedsrichter Merk entschied auf indirekten Freistoß. Schober: „Ich habe geglaubt, dass es kein absichtlicher Rückpass war.“

Vor der Münchener Auswechselbank hüpften derweil Trainer, Offizielle und Ersatzspieler von einem Bein aufs andere – wie Schulmädchen, die einen Abzählreim singen. Kapitän Stefan Effenberg beorderte Abwehrchef Patrick Andersson nach vorne, „weil ich weiß, dass der einen strammen Schuss hat“. Die letzte Chance auf ein Happyend: Der Schwede lief an, „presste den Ball ins Tor“ – zum ersten Mal in dieser Spielzeit überhaupt – und badete sogleich in Adrenalin. Keeper Kahn wusste in diesen Sekunden, „wofür man Fußball spielt“: Er rannte zur Eckfahne, riss sie heraus und legte sich rücklings hin. Er hätte vor Glück wohl auch das Tor zersägt oder den Platz umgegraben.

Anpfiff, Abpfiff, Weißbierschlacht. Uli Hoeneß zog derweil, vom Glück sichtlich gezeichnet, die Augenbrauen hoch, schüttelte – wie alle – immer wieder den Kopf und lächelte verschmitzt. „Es war eine ungeheuere Dramatik. Mit diesem Ausgang habe ich nicht mehr gerechnet. Wir haben das Glück erzwungen.“ Der Bayern-Manager wusste, dass nicht das bessere, sondern das glücklichere Team zu Meisterehren gekommen war. Neunmal in dieser Saison verließen die Bayern den Platz als Verlierer – einmal mehr als die zum richtigen Zeitpunkt stets schwächelnden Teams aus Schalke und Dortmund.

Während der Siegerehrung blieb der Manager denn auch als Einziger am Spielfeldrand stehen und sah sich das „Salatschüssel“- Szenario aus der Ferne an. Vor dem Eingang zum Kabinentrakt sprach Bixente Lizarazu gerade in das Mikrofon des französischen Fernsehsenders Canal plus, da stellte sich der kleine Sören neben den Welt- und Europameister. Ganz fest hielt der zehnjährige Bayernfan seine papierne Meisterschale in den Händen und wartete artig, bis Lizarazu das Interview beendet hatte. Sören zu Bixente: „Ein Autogramm auf die 17. deutsche Meisterschaft, bitte!“ Bixente zu Sören: „Natürlich, auch dir herzlichen Glückwunsch zur Meisterschaft!“ Sören strahlte, Bixente strahlte. Nur Schalke weinte.