Frei wie ein Nackedei

Der Schriftsteller Michael Ebmeyer setzt in seinen Geschichten auf extreme Individualisten, die sich gegen die Routine der New Economy wehren. Dabei stört ihn weder Kitsch noch Klamauk. Ein Porträt

von JAN BRANDT

Bei Michael Ebmeyer hängen die Eltern als Automat an der Wand. Wirft man Geld in einen Schlitz, kommt per Zufallsgenerator ein Sermon. Das können kurze Weisheiten sein wie „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ oder eine Litanei über die schulischen Leistungen. Mit dieser Maschine erübrigen sich die regelmäßigen Reisen nach Hause, die doch nur die Gewissheit nähren, dass sich die Beziehungen niemals ändern und die Eltern in ihren Nachkommen immer die Kinder sehen werden, die unfähig sind, ihre Schuhe zuzubinden oder auf eigenen Beinen zu stehen.

Bisher ist dieser Prototyp moderner Erziehung aber eine Ausgeburt von Ebmeyers Fantasie und findet sich nur auf dem Papier, in dem Erzählungsband „Henry Silber geht zu Ende“, der vor kurzem bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Im wirklichen Leben sind die Wände seiner neuen Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg kahl, kein Bild, kein Regal, kein Automat. Und zu seinen Eltern, die in Bielefeld leben und ihm nie Moralpredigten halten, hat er ein entspanntes Verhältnis.

Vielleicht, weil etwas aus ihm geworden ist und alles seine Ordnung hat. Michael Ebmeyer ist ein zurückhaltender, höflicher junger Mann, er hat eine Freundin, ein abgeschlossenes Hochschulstudium und ein mehr oder weniger geregeltes Einkommen. In schwachen Momenten überkommt ihn wie viele andere seiner Generation die Angst vor der Selbstständigkeit. Er ist jetzt 27 Jahre alt und gerade von Tübingen nach Berlin gezogen, die aussichtsreiche Assistenzstelle an der Uni hat er aufgegeben und gegen die unsichere Existenz als Autor getauscht.

Er spricht leise, überlegt lange, bevor er etwas sagt und von dem „großen Glück“ redet: darüber, beim Berliner Literaturwettbewerb Open Mike einen Verlag gefunden zu haben, und darüber, sich mit dem Buch einen Traum erfüllt zu haben. Aber dann kommt gleich die Einschränkung: „Die Art von Selbstbewusstsein, dass ich mich für ein Glückskind halte, fehlt mir.“ Und: „Ich glaube nicht, dass ich das mehr verdient habe als andere.“ Mag sein. Nur drehen sich seine vierzehn Geschichten nicht um den Erzähler und seine Alltagserlebnisse. Sie handeln vom Scheitern und Wiederaufstehen, von Krisen und Wendepunkten, vom Wunsch, alles umzukrempeln, vom Wahnsinn und vom Glück, anders zu sein. Sie sind rebellisch, poetisch und überraschend, witzig und melancholisch, alles auf einmal, scheinbar simpel konstruierte Geschichten, in denen nichts dem Zufall überlassen wird.

Einer wünscht sich nichts sehnlicher, als im Wilden Westen zu leben. Und als er endlich der mit dem roten Hemd ist, der als Vorletzter in Dodge City einreitet und mit dem Gewehr in die Luft schießen darf, merkt er, dass Träume, die Wirklichkeit werden, auch ihre Schattenseiten haben: Dodge City ist ein Vergnügungspark und der Cowboy ein Schauspielschüler, der sich viermal am Tag vom Sheriff verhaften lassen muss.

Ein anderer lebt als linker Politikstudent bei einer extrem bürgerlichen Familie zur Untermiete. Er war eine Zeit lang Mitglied im Komitee „Trotzki 2000“, aber die Gruppe ist inzwischen von Tübingen nach Berlin gezogen und der Kontakt abgebrochen. Man hat ihm gesagt, er sei die Basis im Süden, doch seine unmittelbare Umgebung ist nicht der richtige Ort, an dem revolutionäre Ideen gedeihen könnten. Der Hausherr ist Burschenschaftler, die Söhne Mercedesfahrer, und die Mutter erfüllt das klassische Rollenmodell.

In beiden Fällen kommt es zu einer gewaltsamen Lösung des Konfliktes; der eine erschießt seinen Vorgesetzten, der andere beschmiert die Wände mit roter Farbe, Verzweiflungstaten, die im Wissen verübt werden, dass das große Ziel nicht mehr erreicht werden kann. So versuchen sie, wenigstens für sich selbst zu kämpfen, werben um Anerkennung von Überzeugungen, für die es in der spießigen Provinz, wo Konformismus und Borniertheit regieren und jede Abweichung sofort bestraft wird, keinen Platz gibt.

Manchmal hat es den Anschein, als ob Ebmeyer seine verschrobenen Figuren nicht ganz ernst nimmt, übertrieben und verzerrt sind ihre Bedürfnisse, peinlich ihre kleinen Macken. Man hat ihm deshalb schon vorgeworfen, sich über linkes Engagement lustig zu machen. Dabei seien die Erzählungen vor über zwei Jahren entstanden, verteidigt er sich, zu einer Zeit, als Gerhard Schröder Kanzler wurde, als immer mehr Start-ups sich in Fabriketagen ausbreiteten und jeder glaubte, mit Aktien das große Geld machen zu können. Und plötzlich zeigt sich der kritische und zynische Ebmeyer, der, der froh ist, dass es den Börsencrash gab und die „New-Economy-Angepasstheit“ ein Ende gefunden hat. Denn darin liege für alle, die es nicht geschafft haben, die Chance, neu anzufangen und ein bisschen anarchistisch zu sein. Seitdem machen die entlassenen Content Developer und Art-Direktoren ja auch das, was sie schon immer machen wollten: feiern, Spaß haben, Uni beenden.

Ebmeyers Helden, die Töchter und Söhne, Studenten, Schlagersänger und Nacktjogger, sind keine Idole, auch wenn manche ihnen nacheifern, etwa der Lehrer dem „extremen Individualisten“ in der Geschichte „Nackedei“, der alle Hüllen fallen lässt, um endlich so frei und glücklich zu sein wie sein Vorbild. Sie sind Aussteiger, die den Aufstand proben und sich nicht unterkriegen lassen und die doch so normal und menschlich sind, dass man sie sich nicht als Starschnitt in Lebensgröße an die Wand hängen möchte. Wie zum Beispiel der an Harald Juhnke erinnernde Entertainer Henry Silber, der lieber stirbt, als auf den Suff zu verzichten, und der sich deshalb vorübergehend vom Showgeschäft verabschiedet. Silber pachtet eine Tankstelle und taucht für eine Weile unter. Später wird er zum Propheten schlechter Nachrichten und arbeitet an einem Comeback als Sänger, wobei er die Festzeltlaune des Schlagerpublikums durch bösartige Remixe seiner eigenen Hits zerstört und manche Hausfrau mit Zeilen wie „Ich lieg wach bis um vier / Verprügelt von dir“ beim Schunkeln aus dem Rhythmus bringt.

Einige Zeit hat Ebmeyer selbst regelmäßig auf der Bühne gestanden, mit seiner Band „Die Dusche“, die nach eigener Aussage „psychotische Texte mit minimalistischer Musik“ verknüpfte und sich inzwischen aufgelöst hat. In Berlin will er eine neue Gruppe zusammenstellen und seinen Roman fertig schreiben, der sich „wieder mit der Frage nach politischem Engagement in einem angeblich postideologischen Zeitalter“ beschäftigt.

Mit „Henry Silber geht zu Ende“, diesen kurzen satirischen und absurden Geschichten, seinen originellen Figuren und einer einfachen, präzisen Sprache steht Michael Ebmeyer unter den deutschen Debütanten ziemlich alleine da, weil sie so wenig mit ihm selbst zu tun haben und es ihm gelingt, Kitsch und Klamauk mit den großen Themen der Literatur zu verbinden, ohne trivial oder belanglos zu wirken. Und die Radikalität, mit der hier einer weit verbreiteten Harmoniesucht entgegengesteuert wird, ist eine Ermunterung, sich niemals unterkriegen zu lassen, auch wenn der Kampf aussichtslos ist.

Michael Ebmeyer: „Henry Silber geht zu Ende“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 200 Seiten, 17,90 DM