Der unerbetene Klassiker

Begreifen, wie die Tat begangen wurde: Raul Hilberg, Autor des Buches „Die Vernichtung der europäischen Juden“, wird 75 Jahre alt. Er schuf die Grundlagen für die Holocaust-Studien

von CHRISTOPHER BROWNING

Das Jahr 2001 liefert zwei wichtige Anlässe, das Leben und die Laufbahn Raul Hilbergs zu feiern. Es ist das Jahr seines 75. Geburtstages. Und in dieses Jahr fällt auch der 40. Jahrestag der Veröffentlichung der ersten Ausgabe seines monumentalen Werkes „Die Vernichtung der europäischen Juden“. Der Mann wie das Buch haben mehr als jeder andere Wissenschaftler, als jedes andere Buch zur Begründung des Forschungsbereichs beigetragen, der heute als Holocaust-Studien bekannt ist. Von der Wirkung dieses Buches kann ich aus ganz persönlicher Erfahrung berichten. Ich hatte gerade meine Magisterprüfung in französischer Diplomatiegeschichte bestanden, als ich im Sommer 1969 zum ersten Mal Hilbergs „Vernichtung der europäischen Juden“ las. Im Lichte dieser Erfahrung widmete ich meine weiteren Studien der Verfolgung der Juden durch die Nazis und schrieb meine Dissertation über das deutsche Außenministerium und die „Endlösung“. Ein Buch veränderte mein Leben.

Im Vorwort zur Ausgabe der „Vernichtung der europäischen Juden“ von 1961 schrieb Hilbert, das Thema seines Buches sei „als historisches Ereignis noch nicht verarbeitet“. Ebenso wenig sei es akzeptiert „in einem wissenschaftlichen Sinne. Beispiellose Ereignisse solcher Größenordnung werden in der Wissenschaft nur akzeptiert, wenn sie zur Überprüfung existierender Vorstellungen von Macht, von Beziehungen zwischen Kulturen, von Gesellschaft ganz allgemein untersucht werden.“ Damit es zu einer derartigen wissenschaftlichen Akzeptanz kommt, musste man zuerst „begreifen, wie diese Tat begangen worden war“. Das war die erste Aufgabe, die Hilberg sich stellte: systematisch zu analysieren, wie die Juden Europas vernichtet worden waren.

Ursprünglich konnte Hilberg für sein Buch keinen Verlag finden, und als es endlich erschienen war, wurde es in keiner wissenschaftlichen Zeitschrift besprochen. Einzig aufgrund seiner Verdienste und ohne jede Verlagswerbung errang „Die Vernichtung der europäischen Juden“ langsam, aber unaufhaltsam den unbestrittenen Status eines Klassikers. Ein Maßstab für die Bedeutung und den Erfolg dieses phänomenalen Werkes war, dass Hilberg in der überarbeiteten und ergänzten dreibändigen englischen Ausgabe von 1985 auf die oben zitierten Bemerkungen verzichten konnte. Die Vernichtung der europäischen Juden (oder der „Holocaust“, wie der Prozess in der Folge benannt wurde) galt nicht länger als eine Verirrung, als ein groteskes Ereignis ohne jede Bedeutung für das Selbstverständnis der Menschheit. Es wurde zunehmend als Wendepunkt der Weltgeschichte anerkannt. Indem wir „begreifen konnten, wie diese Tat begangen wurde“, haben wir auch notwendige, aber unbequeme Einsichten über die westliche Zivilisation gewonnen, über den Nationalstaat, die bürokratische Gesellschaft und das Wesen des Menschen. Wie errang Hilbergs Werk eine solche Kraft und Wirkung?

In beispielloser Beherrschung der dokumentarischen Quellen und ohne jede Sensationshascherei schilderte Hilberg die Vernichtung der europäischen Juden als einen administrativen Prozess, der von einem komplexen, aus vier Hierarchien bestehenden Apparat durchgeführt wurde – Partei, Ministerialbürokratie, Industrie und Wehrmacht. „Die Kooperation dieser Hierarchien war in der Tat so perfekt, dass wir mit vollem Recht von ihrer Verschmelzung zu einer Vernichtungsmaschinerie sprechen können.“ Die deutschen Täter, die diese Vernichtungsmaschinerie besetzten, waren „keine besonderen Deutschen“, sondern eher „ein bemerkenswerter Querschnitt der deutschen Bevölkerung“. Die Vernichtungsmaschinerie war „nichts anderes als eine besondere Rolle der organisierten Gesellschaft“. Ohne „einen grundlegenden Plan“ bewegten sich die Täter nichtsdestoweniger mit einem „erstaunlichen pfadfinderischen Gespür“ durch die Abfolge der einzelnen Schritte des Vernichtungsprozesses – Definition, Enteignung, Konzentration und Vernichtung.

Hilberg ließ sich von der künstlichen Polarisierung der intentionalistisch-funktionalistischen Kontroverse der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre nicht ablenken und lehnte beide Positionen in ihren Extremformen ab. Weder war die „Endlösung“ das Ergebnis von Hitlers Realisierung eines seit langem vertretenen, ideologisch abgeleiteten Programms, sobald es Zeit und Umstände gestatteten. Ebenso wenig war sie das Produkt einer improvisierten Reaktion frustrierter untergeordneter Staatsbeamter in einem anarchischen und chaotischen System, das sich selbst in eine Sackgasse manövriert hatte.

Für Hilberg war die „Endlösung“ die Kristallisierung eines Konsensus. „Von entscheidender Bedeutung bei dieser Kristallisierung war die Rolle Adolf Hitlers selbst, seine Haltung zur Welt und spezifischer seine Wünsche oder Erwartungen, wie er sie in einem inneren Kreise äußerte.“ Es blieb jedoch anderen überlassen, seine Prophezeiungen zu verwirklichen, sich auf seine Autorität zu berufen und seinen Erwartungen zu entsprechen. Als die Verfolgung der Juden eskalierte, veränderte sich der Modus operandi des Nazi-Regimes. Eine formale Struktur öffentlicher Gesetze und schriftlicher Anordnungen verkam allmählich zu einem zunehmend verschwommenen und formlosen Netz geheimer Richtlinien, vager Ermächtigungen, mündlicher Direktiven und „grundlegender Übereinstimmungen zwischen Beamten, aufgrund derer Beschlussfassungen keiner näheren Anweisung oder Erläuterung bedürfen“. Im Zentrum seiner Analyse standen die bürokratischen Täter der Vernichtungsmaschinerie.

Der erfahrene Funktionär kam zu seiner Geltung. Der mittlere Bürokrat war sich, nicht minder als sein oberster Vorgesetzter, über die bestehenden Absichten und Möglichkeiten im Klaren. Im Kleinen wie im Großen wusste er, für welche Entscheidungen die Zeit herangereift war. Fast immer war er es, der eine Maßnahme einleitete. Letztlich war die Vernichtung der Juden nicht so sehr das Produkt von Gesetzen und Befehlen als vielmehr eine Angelegenheit der Gesinnung, des gegenseitigen Verstehens, der Übereinstimmung und Synchronisation. Die neueren Arbeiten so vieler fähiger junger deutscher Wissenschaftler, die auf die Bedeutung eines breiten Konsensus und lokaler Initiativen innerhalb des Entscheidungsprozesses hingewiesen haben, bestätigten in der Tat Schlussfolgerungen, zu denen Hilberg bereits vor Jahrzehnten gekommen war.

„Die Vernichtung der europäischen Juden“ ist zu einem solchen Markstein in der Historiografie des Holocaust geworden, dass Hilbergs andere Veröffentlichungen und Beiträge häufig übersehen worden sind. Seine Forschungen zu der verhängnisvollen Rolle der Deutschen Reichsbahn bei der „Endlösung“ lieferte eine erschreckende Demonstration, wie gewöhnliche Menschen, die die Routinefunktionen ihrer Arbeit erfüllten, in den Vernichtungsprozess einbezogen wurden. Seine kritische Edition des Tagebuches von Adam Czerniakow machte eines der beiden wichtigsten Dokumente (das andere war die Chronik des Ghettos von Lodz) für die vergeblichen Versuche der Judenräte zugänglich, mit einer beispiellosen Situation der Machtlosigkeit und Opferexistenz fertig zu werden. Und seine Untersuchung „Täter, Opfer, Zuschauer“ begründeten das Vokabular und die Kategorien, die das Feld der Holocaust-Studien beherrscht haben.

Raul Hilbergs Memoiren „Unerbetene Erinnerungen“ ist durchdrungen von einem Gefühl der Trauer und Melancholie. Das ist verständlich angesichts einer Karriere beruflichen Kampfes, die der Durchdringung eines der schrecklichsten Kapitel der menschlichen Geschichte gewidmet war. Aber Raul Hilbergs Karriere ist auch eine Geschichte außergewöhnlicher Leistungen und wohl verdienter, wenn auch verspäteter Anerkennung. Aus Anlass seines 75. Geburtstages und des 40. Jahrestages der Veröffentlichung der „Vernichtung der europäischen Juden“ grüßen wir einen Mann und ein Buch, die unser Verständnis von der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts grundlegend verändert haben.

Aus dem Englischen von Meino Büning