Handywege zur Kunst

In Tokio leben 28 Millionen Einwohner, fast ausschließlich Japaner. Gegen diese Abgeschlossenheit steht die Ausweitung der Kunstszene. Internationale Ausstellungen finden in Off-Galerien und Kaufhäusern statt. Oder im Internet. Ein Reisebericht

von ANGELIKA RICHTER

Als Gast lebt man in Tokio mit Freunden zu viert auf 30 Quadratmetern, in einer winzig kleinen Wohnung. Tagsüber lässt man sich durch die Straßen treiben, fährt mit der legendären, weil immer überfüllten U-Bahn, geht auf den Fischmarkt, isst bei Fugo-Meistern Sushi, besucht Friedhöfe, Tempel oder die öffentlichen Bäder der Stadt. Ähnlich ausufernd ist auch die Kunstszene: Die über eintausend Galerien und Museen sind weniger auf einen bestimmten Bezirk Tokios konzentriert als über die gesamte Stadt verteilt. Einzelne Galerien sind nur durch lange und umständliche U-Bahn-Fahrten zu erreichen. Wird man auf seinem Rundgang nicht von jemandem begleitet, der sowohl die Stadt als auch den Kunstkontext vor Ort kennt, ist es ausgesprochen mühsam, sich überhaupt zurechtzufinden. Kann man zudem Japanisch weder verstehen noch lesen, ist man auf seiner Suche ziemlich verloren. Denn das monatlich erscheinende Kunstmagazin Bijutsu Techo und der umfassende, überall ausliegende Galerien-Führer werden nur in japanischer Sprache herausgebracht.

Glücklicherweise gibt es das Online-Magazine „shift“ (www.shift.jp.org) mit seinen Artikeln zu Grafik/Design, Mode, Musik oder Kunst in Tokio. Ein Projekt innerhalb des Magazins ist das „Nama Tokyo“ – als „part of the Cultural-Arts-Research-Exchange (C-A-R-E) mission of Homer23, a space travelling computerhumanoid from Planet Darzos“. Dieser virtuelle Homer23 bespricht Ausstellungen in unbekannten off-spaces, schreibt über Seminare zum Thema „play, create, use“, die das Londoner Tomato-Kollektiv organisiert hat, oder über Arbeiten des japanischen Gegenstücks von MTV, dem Musikkanal Vibe. Zusätzlich liest man im Rückblick über internationale Events, etwa die Live-Performance des japanischen DJs Tasaka zur letzten Nacht des Onedotzero-Festivals 2000 im Londoner ICA. Dort waren japanische Musikvideos und Commercials Bestandteil des Filmprogramms und werden es auch in diesem Jahr wieder sein (www.onedotzero.com). Natürlich widmet sich „shift“ vor allem den kulturell rührigen Vierteln Shibuya und Harajuku – „home to the trendiest label and independent fashion stores, art galleries, design products and book shops, street-side cafés and restaurants“.

Im command N, einem der unabhängigen Kunsträume Tokios, wird dagegen die Installation „Discoder“ der jungen Web-Künstlern exonemo gezeigt, die im Bereich „art+web+technology“ international erfolgreich sind. Command N, im April 1998 gegründet (http://webs.to/command-N), wird sowohl von verschiedenen Künstlern als auch Kuratoren organisiert. Es liegt in dem weltweit bekannten Stadtviertel für Elektronik, Akihabara, in dem in unzähligen lauten und schrillen Kaufhäusern von ganz gewöhnlichen Staubsaugern und Mikrowellen bis hin zu den neuesten Convergenzgeräten wie Game-Consolen alles im Angebot ist. Dort initiierte command N im letzten Jahr das Akihabara TV: Kurzfilme und Videos, die sich auf das Stadtviertel bezogen, liefen für zwölf Tage auf den Fernsehmonitoren der Läden. Momentan stellt die Gruppe im Londoner „Selfridges“-Kaufhaus ein „Rabbit Paradise“ aus, das auf der Homepage ständig aktualisiert wird.

In der Gangoo-Show präsentiert sich derweil eine eigenwillig kitschige, sehr amüsante Ansammlung von mutiertem Spielzeug und Objekten. Diverse Plastikgegenstände wie Seifenhalter, Pflanzenbesprüher oder Massagebälle, allesamt aus 100-Yen-Billigläden, wurden von der Künstlergruppe Namaiki zu bizarren Miniatur-Erscheinungen recycelt. Die Ausstellung findet in einem Atelierhaus statt, das in Roppongi, im Süden Tokios, liegt. Es ist das Ausländer- und auch Rotlichtviertel der Stadt, das mit seinen Hochstraßen und nächtlichen Taxistaus durchaus an das chaotische und desolate Bangkok erinnert.

Auf Streifzügen durch Shibuya oder Harajuku gelangt man durch Zufall auch zu einer der kommerziell arbeitenden Galerien. Dort liegt fast immer Favorite! aus, ein etwas dünner, auf sechzehn Galerien reduzierter Flyer. Die darauf verzeichneten Galerien arbeiten nicht nur innerhalb des japanischen oder asiatischen Kunstmarkts, sondern weltweit. Deswegen sind ihre Adressen auch ausnahmsweise in englischer Sprache angegeben. Zu finden ist auf dem Flyer zum Beispiel die Gallery Side 2, die im Keller eines Wohnhauses in der Nähe des Yoyogi Parks seit vier Jahren Ausstellungen realisiert: Zu den Künstlern der Galerie gehören die Japaner Hiroshi Ono oder Taro Shinoda ebenso wie der amerikanische Künstler Doug Aitken oder der aus Thailand stammende Rirkrit Tiravanija. Dagegen fehlen in Favorite! wichtige Institutionen wie das in den Dreißigerjahren als Wohnhaus und im Bauhaus-Stil entworfene Hara Museum oder selbst das Museum for Contemporary Art Tokyo. Deren Adressen lassen sich eher zufällig in dem kostenlosen und auf Englisch erscheinenden Stadtmagazin Tokyo Classified (www.tokyoclassified.com) ausmachen, das in großen Music Stores wie Tower Records ausliegt.

Da die Tokioter Adressen unterteilt sind in Stadtbezirke, Stadtviertel, Blocks bis hin zu nicht folgerichtigen Hausnummern, sind die Miniatur-Stadtpläne in Favorite! zur Orientierung unumgänglich. Läuft man auf seinem Rundgang damit durch die Stadt, fallen einem plötzlich auch diverse Tokioter auf, die vollkommen selbstverständlich ebenso mit Skizzen in der Hand nach den richtigen Adressen suchen. Markante Punkte auf den Plänen wie „Flower Shop“ oder „Police Station“ sind dazu bestimmt, die Wegsuche von der U-Bahn zum angegebenen Ort zu erleichtern. Am meisten aber schwören die Tokioter auf ihr Handy, das auch pausenlos im Einsatz ist. Neben der erschwerten Adressensituation und natürlich dem noch mehr als in Deutschland vorherrschenden Kultstatus des Handys gibt es dafür einen durchaus pragmatischen Grund: Die Installation eines Festnetzanschlusses in Tokio kostet umgerechnet 1.600 Mark.

Spätestens nach dem Kauf eines wunderbar lady-shave-farbenen Handys fühlt man sich auf seiner Suche etwas sicherer und begibt sich nach der wiederholten telefonischen Bestätigung, dass man sich eindeutig auf dem richtigen Wege befände, motiviert zur nächsten Ausstellungseröffnung. Gravierende Verspätungen treten allerdings dann ein, wenn man sich ausschließlich auf Favorite! verlässt. Dabei kann der unerfreuliche Fall eintreten, dass man nach einer Stunde U-Bahn-Fahrt von Shinjuku in den Osten der Stadt vergebens eine weitere Stunde nach der Tomio Koyama Gallery sucht. In einer Gegend, die irgendwie an Neukölln erinnert, wird einem allmählich bewusst, dass auf dem Favorite!-Stadtplan für diese eine Galerie einfach der Norden mit dem Süden vertauscht wurde. Nach weiteren 20 Minuten kann man sich glücklich schätzen, die in der zweiten Etage eines ehemaligen Reismarktes gelegene Galerie gefunden zu haben. Es verwundert dann auch überhaupt nicht mehr, dass in der Ausstellung von Satoshi Hirose der Galerieboden himmelblau gestrichen und an der Decke eine kleine Stadt aus Modellhäusern angebracht ist.

Im Vergleich zu den Ausstellungen im Off bleibt die zeitgenössische japanische Kunst in kommerziellen Galerien oftmals schlicht und konventionell. Auch die figürlich verspielte Malerei der jungen Künstlerin Tomoko Konoike in der Mizuma Art Gallery wirkt eher etwas beliebig mit ihren Referenzen zum längst nicht mehr außergewöhnlichen Manga. Neben den off-spaces sind es dann vor allem noch die Kaufhäuser Tokios, in denen die interessanten Ausstellungen stattfinden. Department Stores wie das LaForet in Harajuku sind ein typisch japanisches Phänomen: Hier wird dem ausgeprägten Markenfetischismus gehuldigt, während in den Häusern zugleich Kunst gesammelt und regelmäßig gezeigt wird.

Vor allem für einheimische Künstler stellen die Stores ein wichtiges Forum dar. In der Parco Gallery waren letztes Jahr unter anderem die computergenerierten Model-Porträts von Hiro Sugiyama und seiner Design Company Enlightment zu sehen, dazu Arbeiten der Fotografin Hanayo. Auch die erfolgreiche Ausstellung „Super Flat“, kuratiert von dem Künstler Takashi Murakami, wurde dort zum ersten Mal im Frühjahr gezeigt. Seit einiger Zeit werden aber auch sehr viele amerikanische und europäische Künstler nach Tokio eingeladen. In der Tokyo Opera City Art Gallery, die zum Opera City Building gehört – eines der wenigen Skyscraper der Stadt –, ist es der Belgier Luc Tuymans mit 70 Ölbildern. Im Watari-Um, einem privaten, von Mario Botta entworfenen Museum in Shibuya, sind es Arbeiten von Gary Hill. Der österreichische Fotograf Walter Niedermayr ist in der Gallery Koyanagi in Ginza zu sehen, einem sehr europäisch, aber auch sehr clean anmutenden Geschäfts- und Galerienviertel. Und der Brite Julian Opie ist in der Galerie Scai The Bathhouse mit neuen Arbeiten vertreten.

Der Austausch zwischen Japan und dem Rest der Welt lässt sich zumindest außerhalb von Tokio noch ausbauen. Deshalb darf man auf die erste Internationale Yokohama Triennale gespannt sein, die im September eröffnet (www.jpf.go.jp/yt2001/). Die dreimonatige Ausstellung, an der 100 Künstler teilnehmen, wird in der Pacifico Yokohama Exhibition Hall und anderen Orten in Yokohama City stattfinden. Unter dem Titel „Mega-wave – Towards a New Synthesis“ versprechen sich die japanischen Kuratoren und künstlerischen Leiter von der Triennale neue Visionen einer Verschmelzung von Kunst und Gesellschaft. Masanori Oda, einer der Künstler aus Japan, die an der Triennale teilnehmen werden, hat bereits eine Arbeit eingereicht. Sie findet sich – natürlich – im Internet.