Der befreiende Akt des Sprechens

Kritik als Selbsterschaffungsritual: Jürgen Habermas bekommt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, meinte, Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefasst. Wenn man diesen Satz für das Werk von Jürgen Habermas bemüht, dann ist das kein übersteuertes Ständchen für den diesjährigen Preisträger des Friedenspreis des Börsenvereins. Habermas hat wie kein anderer die Bundesrepublik Deutschland in Gedanken gefasst – sei es im Widerspruch, in Zustimmung oder auch in Vorgriffen auf unausgeschöpfte Möglichkeiten, Letzteres nennt er seit Mitte der 60er-Jahre Emanzipation.

Als Student hatte Jürgen Habermas noch, wie er später schrieb, in der Welt von Heidegger gelebt. Die war unpolitisch, auf der Suche nach den Spuren des Seins. Der junge Habermas suchte nach verläßlichem Boden und nach Wurzeln. Der Gedanke, dass die Wurzeln vergiftet seien, die Vorstellung, in einem Jahrhundert der Vernichtung zu leben, wäre zunächst wohl kaum auszuhalten, also auch nicht zu formulieren gewesen. Ähnlich wie sich ein Volk in Arbeit und Wiederaufbau stürzte, so vertieften sich Studenten wie Jürgen Habermas in die Bücher. Eine Entscheidung, die heutige 20-Jährige nicht unbedingt nachvollziehen können.

Die Musik der Welt lag für ihn und viele seiner Generation in der Theorie. Von Horkheimer und Adorno ging dann das große Versprechen aus, dass Erkenntnis als Entschleierung der Entfremdung, selber schon emanzipatorische Praxis sei, Abkehr vom übermächtigen System des ungelebten Lebens, wie Adorno sagte. Dieser Eros der Theorie ergriff in den 60er-Jahren eine ganze Studentengeneration. Theorie schien insofern ganz praktisch, als dass in ihrer Formulierung eine Welt, die vom Kampf ums Überleben befreit ist, vorweg genommen wird.

Mit dem Begriff Öffentlichkeit begann Habermas einen Faden zu einem immer stärkeren Seil zu knüpfen, an dem er sich aus den Traditionen introvertierten Denkens ans Licht eben der Öffentlichkeit zog. An diesem Seil knüpfte er weiter. Er entdeckte eine andere Geschichte als die von Krieg und Bürgerkrieg, von deutscher Vernichtungswut und vom Rückzug aus der Welt. Habermas fand Traditionen der freien Kommunikation. Vor allem für deren endlose Vorgeschichte begann er sich zu interessieren: Es ist die Geschichte der Sprache und vor allem des Sprechens. Dass dies eine Entdeckung sein kann, das kann nur der nachvollziehen, für den das alles nicht selbstverständlich war, also einer wie Habermas, der die Falten der Welt an sich selbst erfahren und den Vorteil kennengelernt hat, von einem gewissen einfältigen Glück verschont geblieben zu sein.

So wurde Habermas zum Medium vieler Intellektueller seiner Generation. Abschied vom introvertierten, murmelnden heideggerschen Sprechen! Das Wort ergreifen, auch wenn es vorsichtshalber lieber schriftlich geäußert wird! Sich frei äußern als ein großes Versprechen, als ein Akt, in dem der Sprechende sich exponiert. Das ist Freiheit. Die Frage, was gesprochen wird, die Frage nach einer Freiheit wozu, sie stellte sich zunächst noch nicht. Kritik wurde eine Art Selbsterschaffungsritual.

Zwischen seinen zuweilen umständlichen und verrenkten Zeilen führte Habermas ein Selbstgespräch, in dem sich bald eine Generation von Studenten erkannte. Die Titel seiner Bücher wurden zu Parolen, auch wenn der Text für viele hermetisch und für die allermeisten unbekannt blieb. Aber die in der Lektüre aufsteigende Qual schien doch ein authentischer Ausdruck von Geburtswehen. Man könnte gegen viele Autoren Nachteiligeres vorbringen.

Als davon in Deutschland noch kaum jemand sprach, hatte Habermas die neueren angelsächsischen Philosophen schon gelesen. Er folgte der Sprechaktheorie des in Berkeley lehrenden John Searle. Wahrheit begriff er nun nicht mehr als irgendeine Übereinstimmung von Satz und Tatsache, sondern als etwas, was die miteinander Sprechenden, eben dadurch, dass sie miteinander sprechen, erst schaffen. Denn, so schreibt Habermas, „in jedem Akt des Sprechens wohnt das Telos der Verständigung schon inne“. Sprechend entsteht gewissermaßen die Gesellschaft, über die dann nach Mustern von Herrschaft und Ausnutzung verfügt wird. Die Sprache ist der Grund, der immer neu geschaffen wird.

Das ist nun unsere historische Situation: Der alte Himmel der Autoritäten und Weissagungen ist geräumt, die Erde wird endlich irdisch und Habermas, daran gibt es keine Zweifel, hat an diesem deutschen Säkularisierungsunternehmen entscheidend mitgewirkt. Das strahlt sogar nach China, wo er Anfang Mai vor vollen Hörsälen durch die Unis tourte. Man könnte also beinahe etwas stolz sein.

REINHARD KAHL