Schweigen im Königreich

Tony Blair mag erfolgreich sein. Auf die wichtigsten Fragen des Landes hat er keine Antworten: die nach der britischen Identität

von DOMINIC JOHNSON

Den Briten geht es gut, und doch ist etwas faul. Es ist schon ein Wunder, wie wenig politische Folgen die Ereignisse des letzten halben Jahres hatten, als das Eisenbahnnetz zusammenbrach und die ländliche Ökonomie aufgrund der Maul- und Klauenseuche in eine beispiellose Krise sank. Solche nationalen Notstände, bei denen die Reaktion der Labourregierung keineswegs glänzend war, sind aber offensichtlich nicht die Faktoren, an denen die Briten ihre Regierenden messen.

New Labour, so scheint die Mehrheitshaltung in Großbritannien zu sein, ist ein ziemlich effizienter technokratischer Verwaltungsapparat; also soll er seine Arbeit machen.

Aber gerade die Immunität der politischen Sphäre gegenüber krisenhaften Entwicklungen sollte ein Warnsignal sein. Die Emotionen in der britischen Politik kommen aus anderen Fragestellungen, und auf die hat New Labour keine Antwort. Es sind die Fragen nach der britischen Identität.

Bereits im Wahlkampf bildeten diese Themen einen Subtext, der sich allmählich an die Oberfläche arbeitete. Die Rassenunruhen zwischen weißen und asiatischen Jugendlichen in der nordwestenglischen Textilstadt Oldham und die von allen Parteien so zwanghaft wie halbherzig geführte Debatte um die Zukunft der EU-Integration machten klar, worum es in der kommenden Wahlperiode eigentlich gehen wird: Was ist Großbritannien, und was ist sein Platz in der Welt?

Großbritannien ist kein Nationalstaat, sondern ein „Vereinigtes Königreich“ mehrerer Nationen, die einen Grund brauchen, um sich auf Dauer demselben Staat zugehörig zu fühlen. Jahrhundertelang reichte der Umstand, dass dieser Staat einer der mächtigsten der Welt war.

Heute ist das nicht mehr der Fall. Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt zu sein bedeutet wenig, wenn wenige Kilometer jenseits des Ärmelkanals mit der Eurozone die zweitgrößte heranwächst. Die Frage nach Europa und dem britischen Verhältnis dazu ist die große unbeantwortete Frage von Labours erster Amtszeit, und Tony Blair wird sie nicht noch einmal vier oder fünf Jahre lang mit Nichtbeachtung von sich fern halten können.

Aber weiß er das? Vor der Wahl sandte er alle denkbaren Signale aus: Der europhilen Financial Times sagte er, er könne ein Euroreferendum gewinnen. Der euroskeptischen Times sagte er, ein Eurobeitritt sei überhaupt nicht nötig, um den britischen Einfluss in der EU zu wahren. Der noch euroskeptischeren Sun ließ er per Hintergrundsbriefing abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Kontinentalen ausrichten. Da kaum jemand alle drei Blätter liest, merkte niemand den Betrug.

Es wäre für Labour einfacher, die Europafrage zu beantworten, wenn die Partei einfach einen britischen Patriotismus hochhalten könnte. Aber genau das kann sie, anders als die Konservativen, nicht. Labour hat zu Großbritannien ein gestörtes Verhältnis.

Kurz nach dem Wahlsieg von 1997 begann New Labour ein ambitioniertes Programm von Verfassungsreformen, deren Kernstück die Schaffung unterschiedlicher Grade von Autonomie für Schottland und Wales war. Die Konsequenz davon war ein Sprengsatz für ein Einheit des Königreiches – nämlich dass Schotten und Waliser in Teilbereichen Entscheidungen treffen können, die von der Politik Londons abweichen, während dies Engländern nicht vergönnt ist, da sie nach wie vor direkt aus Westminster regiert werden. Aber Labour merkt nicht einmal, dass dies ein Problem ist – zum Beispiel, wenn schottische Studenten kostenlos studieren können, während für englische Studenten pro Jahr eine Studiengebühr von tausend Pfund (3.200 Mark) fällig ist.

Für manche Verfassungspuristen wäre die logische Folgerung, auch England in Regionen mit eigenen Kompetenzen aufzuteilen. Großbritannien würde dann so aussehen wie die Bundesrepublik Deutschland. Aber dieses Konzept, das unter anderem von der EU verfolgt wird, ist in Großbritannien undenkbar, weil es zur Zersplitterung Englands führen würde, während Schottland und Wales geeinte Nationen bleiben. Aber der Status quo ist nicht zu halten, weil die Bürger in unterschiedlichen Landesteilen seit der Reform unterschiedliche Rechte haben. Labour hat die politische Ordnung Großbritanniens durcheinander gewühlt und weigert sich nun, sie neu zusammenzusetzen.

Wie weit die Verunsicherung der Bürger geht, zeigt auch das jüngste Thema, bei dem Labour auf Identititätsfragen keine Antwort gibt: die Problematik von Einwanderung und multikultureller Gesellschaft. Als Labour 1997 an die Macht kam, war die Anwesenheit großer, integrierter und zugleich selbstbewusster Gemeinschaften asiatischer und schwarzer Einwanderer eine Selbstverständlichkeit. Heute wird alles wieder in Frage gestellt, und Labour hat es nicht gemerkt.

Ein kleiner Rückblick genügt – ein Rückblick auf 1983, im gängigen linken Weltbild mitten in der finsteren Ära des auftrumpfenden Thatcherismus, als die Eiserne Lady ihren höchsten Wahlsieg errang. Damals zeigte eines der konservativen Wahlplakate einen Schwarzen und dazu die Parole: „Labour sagt: Er ist schwarz. Wir sagen: Er ist Brite.“ Ein solches Plakat wäre heute undenkbar – bei den Konservativen, die unter William Hague in defensive und engstirnige Reflexe verfallen, sowieso; aber auch bei Labour, in deren Weltbild Immigranten keine Rolle spielen.

Zu den schweren Unruhen in Oldham Ende Mai, als asiatische und weiße Jugendbanden nächtelang aufeinander losgingen und viele Bewohner offen die Segregation der Stadt zwischen den ethnischen Gruppen als Mittel zur Befriedung propagierten, fiel Tony Blair nur der Kommentar ein, diese Vorkommnisse seien „untypisch“ – ein Kommentar ohne moralische Wertung, lediglich dem ungeschriebenen New-Labour-Gesetz gehorchend, wonach Dinge am Rande der Gesellschaft uninteressant sind und allein der Mainstream zählt. Aber die Unruhen in Oldham waren lediglich Höhepunkt einer Rassendiskussion, die sich in den letzten Jahren beständig zugespitzt hat.

Kaum ein Einzelereignis hat die vergangene Legislaturperiode so geprägt wie der von weißen Rassisten verübte Mord am schwarzen Londoner Teenager Stephen Lawrence, der zwar schon 1993 geschah, dessen Nichtaufklärung durch Polizei und Justiz aber erst in Blairs Regentschaft zu Konsequenzen führte. Eine staatliche Untersuchung fand „institutionellen Rassismus“ in der Londoner Polizei und zog eine bis heute andauernde Verstörung zwischen Polizei und Labourregierung nach sich. Die nicht enden wollenden Klagen der Rechten, unter Blair zöge in Großbritannien eine antirassistische Political Correctness nach US-Muster ein, vergiften auf unmerkliche, aber um so hartnäckigere Art seit Jahren die Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen und lähmen jeden antirassistischen Elan, den Labour je gehabt haben mag.

Stattdessen tat sich die Labourregierung mit einer immer restriktiveren Asylpolitik hervor. Es blieb Margaret Thatcher vorbehalten, nach den Oldhamunruhen den Wunsch zu äußern, Großbritannien möge bald einen asiatischstämmigen Premierminister bekommen. Das würde Blair niemals über die Lippen kommen.

Mit diesen Debatten ist, in einer seltsamen Synchronizität zu jüngsten Debatten in Deutschland, das Jahr 1968 in die britische Politik zurückgekehrt. In Großbritannien war 1968 nicht nur das Jahr der Studentenunruhen, an die sich heute niemand mehr erinnert, sondern auch das Jahr der wohl bekanntesten politischen Rede des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg – einer Brandrede des konservativen Politikers Enoch Powell, in der er vor „mit Blut schäumenden Flüssen“ warnte, sollte die massive Einwanderung afrikanischer und asiatischer Empirebürger andauern. Die Rede beendete Powells politische Karriere, machte ihn zum Helden aller englischen Rassisten bis heute und bewog zugleich die damalige Labourregierung dazu, die ersten scharfen Gesetze zur Eindämmung der Immigration zu verabschieden.

Mit der neuen britischen Asyldebatte, mit der Diskussion um die Berechtigung von Rassismusvorwürfen und mit den Oldhamunruhen ist der Geist von Enoch Powell in die britische Politik zurückgekehrt. Und dabei wird deutlich, dass New Labour sich noch immer nicht aus den Sechzigerjahren herausentwickelt hat, sosehr dies Tony Blair auch behaupten mag.

Auch damals war unter dem Eindruck der materiellen Sättigung der Bürger die Identitätsdebatte vorherrschend: Großbritannien hatte gerade sein Kolonialreich verloren, strebte in die damalige EWG und wusste nicht so recht, ob es noch eine Großmacht war oder nicht. Auch damals fand Labour auf die drängenden Fragen keine Antworten. Die Folge: 1970, als Labour selbstzufrieden nach sechs Jahren Amtszeit mit einem dritten Wahlsieg rechnete, kamen die Konservativen wieder an die Macht. Damit rechnete damals kein Mensch, aber es zerstörte das linke Selbstbewusstsein für eine ganze Generation.

DOMINIC JOHNSON, 34, ist britischer Herkunft und seit 1990 Auslandsredakteur der taz