Dallas nach dem Mauerfall

EU-Erweiterung goes Soap: Thomas Ostermeiers Uraufführung von Biljana Srbljanovics „Supermarket“ bei den Wiener Festwochen. Alles ist überholt und trotzdem lustig

In Interviews hat Biljana Srbljanovic sich in den vergangenen Jahren immer wieder gegen eine Journalismus geäußert, der nur Klischees bestätigt. Die serbische Dramatikerin ist es leid geworden, sich als kritische Vorzeigestimme Belgrads vereinnahmen und von der politischen Realität ihre Themen und Identität aufzwingen zu lassen. Mit „Der Sturz“ hat sie im Vorjahr ihre Belgrader Trilogie abgeschlossen. In ihrem vierten Stück, einem Auftragswerk der Wiener Festwochen in Kooperation mit der Berliner Schaubühne, durchbricht sie zum Teil die öffentliche Erwartungshaltung, thematisiert sie aber zugleich.

„Supermarket“ ist eine Soapopera, die Fragen nach Wahrheit, Authentizität und selbst bestimmter Identität zwischen Ost und West mit Humor umkreist. Serienprotagonist der Soap „Supermarket“ ist Leo Schwartz (Falk Rockstroh), vor dreizehn Jahren aus dem ehemaligen Ostblock emigrierter Direktor einer österreichischen Schule für Ausländer, ein graues Männchen im 50er-Jahre-Anzug. Der will anlässlich des zehnten Jahrestags des Mauerfalls die Akte, die seine Vergangenheit als Staatsdissident dokumentiert, dem Lokalblatt zur Verfügung stellen.

Aber der Sensationsartikel, der ihn als Helden feiern soll, wird nie erscheinen. Nicht bloß weil der Redakteur (Gerd Wameling) nur ein Routineinterview zum 9. November will. Schwartz gerät in eine Zeitschleife: Wie Bill Murray als Radiomoderator in Harold Ramis’ Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erlebt er den selben Tag immer wieder. Und zwar in Variationen, die sich zu immer unwahrscheinlicheren Situationen steigern, wie bei einer schon alten Daily-Soap, in der das Standardmaterial und die Beziehungskombinationen der Serienmitglieder fast erschöpft sind. Irgendwann hat es da jeder mit jedem getrieben, jeder jeden betrogen und belogen.

Da ist die einsame Sportlehrerin Müller und ihr verheirateter Kollege Mayer, Schwartz’ halbwüchsige Tochter Diana und ihr Klassenkollege Mali. Heimliche Verhältnisse, Schwangerschaften und Zeugungsunfähigkeit, Kindesmisshandlung, Inzest, Prostitution, Doppelmord und ein dramatischer Treppensturz in Zeitlupe. Grandios, wie Rockstroh sich als Schwartz alias Leonid Crnojevic von der souveränen Autoritätsperson zum Häufchen Elend wandelt, wie er sich von anfänglicher Irritation über die Déjà-vus in einen Verfolgungswahn hineinsteigert, in hilfloser Wut über eine vermeintliche Verschwörung gegen ihn ausflippt, alles kurz und klein schlägt, die Zeit zu überlisten probiert und schließlich seine Lebenslüge gesteht: Er war nie Dissident, sondern ist ausgewandert, weil seine Frau ihn verlassen hat. Ein Einsamer, der nie angekommen ist in seinem neuen Leben.

Und dann der Punkt, an dem die Geschichte hängenbleibt. Aus der Endlosschleife wird Schwartz durch seinen missglückten Selbstmordversuch gerissen. Als er sich am Heizkörper aufhängen will, reißt er die Wasserrohre aus dem Mauerwerk, löscht unfreiwillig einen Zimmerbrand, den er beim Verbrennen seiner erfundenen Akte ausgelöst hat, und wird so endlich zum gefeierten Medienhelden.

Der Showdown mündet in ein absurdes Happy End, das keines ist, durch Heirat und Adoption bilden sich Paare, und mitten unter ihnen sitzt Schwartz im Rollstuhl, einbandagiert und mit einem Blumenstrauß. Ein Kinderchor verabschiedet das Publikum mit einem Schlager über das Leben als Supermarkt: „Ja, wir leben in einer Soap Society“, meint Srbljanovic in einem Interview. „Ich wollte ein soapisches Stück, ähnlich wie der späte ,Denver Clan‘“, sagt sie und bezieht sich auch auf „Dallas“: „Die Geschichte hat längst jede Logik und Konsequenz verloren, die Toten sind nach Gesichtsoperationen wieder auferstanden, Pamela Ewing hatte alles nur geträumt, alles wird möglich und alle Ideen sind aufgebraucht, das ist Soap.“ In den Reichen-Serien der 80er, so Srbljanovic, gehe es um Machtspiele. „Wie die Länder, die auf ihre Aufnahme in die EU warten . . . Man will endlich auch zu dieser Party eingeladen werden.“

Das Stück und Thomas Ostermeiers Inszenierung funktionieren allerdings nur als klassischer Boulevard. Der Abend entwickelt eine rasante Eigendynamik mit Slapstickeinlagen und Türenknallen, Talkshow- und Soap-Elementen, Schlüsselszenen frieren ein, werden von einer Live-Band atmosphärisch aufgeladen oder auf einer Videowand mit Großaufnahmen, Soap-Stereotypen und Werbeeinspielungen ironisch kommentiert. Dabei jongliert das Ensemble lustvoll, komödiantisch und souverän mit den spielerischen Ebenen. Die große Metapher vom Westen als Supermarkt der Identitäten und die kleine Geschichte eines Immigranten, der seine Identität verloren hat, gehen dabei trotz aller aufgeregten Aufladung mit Bedeutung allerdings ziemlich unter. Für einen Kommentar zur Osterweiterung sind Text und Inszenierung zu unkonkret und die medienkritische Reflexion ist längst von der medial verschachtelten Wirklichkeit eingeholt worden. Das macht aber nichts. Spaß gibt’s trotzdem.

BIRGIT LEHNER