Eintönig schwarz

Okwui Enwezors Ausstellung „The Short Century“ in Berlin gilt als kulturell vielfältig – und zeigt dennoch eine hegemoniale „afrikanische Moderne“

von MARK TERKESSIDIS

Am 20. September 1968 wurde der senegalesische Präsident Leopold Sédar Senghor in der Frankfurter Paulskirche erwartet. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels verlieh ihm den Friedenspreis. Mit dieser Wahl war der SDS alles andere als einverstanden, denn Senghor galt als „dichtende Marionette“ des Imperialismus. Tatsächlich hatte er zu Beginn des Jahres die senegalesische Studentenbewegung und die Proteste gegen Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel brutal niedergeschlagen – ausgerechnet mit Hilfe französischer Truppen. Senghors Schriften wiederum betrachteten die SDS-Aktivisten als „lyrisierendes“ Geschwätz, das „die weißen Werte der Faschisten, die Mystik von Blut und Boden als schwarze Kultur der Neger verkauft“. Stattdessen stellten sie Werke von „Carmichael, Fanon, Lumumba, Cabral und Malcolm“ zur Diskussion.

Wer im Berliner Martin-Gropius-Bau die Ausstellung „The Short Century – Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen in Afrika 1945 bis 1994“ besucht, dem begegnet der Name Senghor auf Buchdeckeln oder Bildern stets als positiver Referent. Für Kurator Okwui Enwezor ist er neben Ghanas Expräsident Kwame Nkrumah der wohl wichtigste Mitbegründer einer „afrikanischen Moderne“. So wie Nkrumahs Name für die anglophone Bewegung des „Panafrikanismus“ steht, so symbolisiert Senghor heute die „Négritude“ – jenes dichterische Bekenntnis, das unter afrikanischen Studenten im Paris der 30er-Jahre entstand. „Short Century“ beginnt mit solchen Dokumenten: Bücher, Plakate und Fernsehbilder exponieren die symbolischen „Führer“ beider Befreiungsbewegungen. Damit prägt diese Setzung die weitere Wahrnehmung: Das gezeigte Material wird auf diese Ursprünge rückbezogen. So verblassen Widersprüche, und auch die in anderen Räumen zu lesenden Zitate etwa von Frantz Fanon oder Amilcar Cabral erscheinen als Kontinuität einer „afrikanischen Moderne“.

Die hiesige Presse hat der Ausstellung begeistert die gelungene Darstellung von kultureller Vielfalt und „Hybridität“ attestiert. Zweifelsohne schmückt sich „Short Century“ mit den Theorien des Postkolonialismus. Aber den deutschen Kritikern ist es dabei nicht in den Sinn gekommen, Enwezors unglaublichen Anspruch zu hinterfragen, eine „zeitgemäße kritische Biografie Afrikas“ zu entwerfen. Sein Projekt deckt häufig die Brüche innerhalb des Begriffs Afrika zu – weder die Verstrickung in das Erbe des Kolonialismus noch die Differenzen innerhalb der Befreiungsbewegungen werden letztlich angemessen reflektiert. Das führt auch dazu, dass in einer Ausstellung, deren erste Stationen München und Berlin sind, die Verstrickung Deutschlands in die kulturelle Entwicklung Afrikas nach 1945 überhaupt keine Rolle spielt.

Tatsächlich zeigte sich im Verlauf der 60er-Jahre, dass die afrikanischen „Führer“ Konzepte wie „Négritude“ oder „afrikanische Persönlichkeit“ dazu verwendeten, um – einmal an der Macht – ihre quasi monarchische Regierung zu legitimieren. Fanon und Cabral wandten sich daher gegen die Vergötterung einer mythischen Vergangenheit und plädierten für einen Kulturbegriff, der im Fluss ist – eine neue Kultur entstehe eben erst im gemeinsamen nationalen Befreiungskampf. Fanon und Cabral sahen „Négritude“ und „Panafrikanismus“ weiter in den Fängen des Kolonialismus zappeln: In den kolonialen Metropolen entstanden, wirkten diese Ideen in Afrika vor allem für die kleinbürgerlich-gebildeten städtischen Schichten anziehend, die ihre Ausbildung wiederum in der Kolonialschule erhalten hatten. Derweil blieb den ländlichen Gegenden jede Vorstellung eines gemeinsamen Schwarzseins oder von Afrika fremd. Obwohl nicht darüber gesprochen wird, ist die Kluft in „The Short Century“ erhalten geblieben: Abgesehen von Südafrikanern lebt und arbeitet der überwiegende Teil der ausgestellten Künstler in den Metropolen des Westens.

Zudem war die „Négritude“ nicht zuletzt das Ergebnis der Identifikation mit einer westlichen Projektion – in diesem Falle einer deutschen. Senghor hat immer wieder betont, dass die Bewegung maßgeblich vom deutschen Ethnologen Leo Frobenius beeinflusst wurde. Frobenius musste für Senghor damals fortschrittlich wirken: Im Gegensatz zu Paris, wo den Afrikanern jegliche kulturelle Schöpferkraft abgesprochen wurde, behauptete Frobenius, der „Neger“ habe Kultur „bis in die Knochen“. Die Erforschung Afrikas diente ihm allerdings dazu, Deutschland zu glorifizieren: Er projizierte einfach die Unterscheidung zwischen den „tiefen“ und „ergriffenen“ Deutschen und den „oberflächlichen“ und „berechnenden“ Westvölkern auf Afrika und konstruierte eine Wesensverwandtschaft zwischen der deutschen und der äthiopischen Kultur. Senghor blieb begeistert: Ein deutscher Gelehrter, schrieb er in dem 1968 auch auf Deutsch erschienenen Essay „Négritude et Germanisme“, gab uns „unsere Wahrheit und damit unsere Würde zurück“. Darin verklärte Senghor auch den Nationalsozialismus als kurzfristige Taubheit durch „die Stimme des Blutes“ und beklagte zuletzt die Verwestlichung der Bundesrepublik. Kein Wunder, dass der SDS tobte.

Dieses ganze Spiel von gegenseitigen Spiegelungen und Missverständnissen wird in Enwezors Projekt leider nicht entwickelt. Nur in der Buchversion findet sich ein Text des in den USA lebenden Theoretikers Kwame Anthony Appiah, der auf solche Probleme eingeht. Allerdings steht seine Analyse ohne Bezug neben historischen Texten aus den Tagen der afrikanischen Befreiungsbewegungen. In einem anderen Essay lässt Enwezor den aggressiven nigerianischen Afrozentristen Chinweizu die „Négritude“ gegen satirische Angriffe Wole Soyinkas verteidigen – Soyinka wird dabei als schwarzer Joseph Conrad denunziert.

Obwohl Enwezor in Interviews darauf hingewiesen hat, dass Afrika für ihn etwas Imaginäres ist, merkt man in Ausstellung und Buch davon wenig. Dass die gezeigte Kunst angesichts dieser Ein- bzw. Unterordnung in eine seltsam einfach gestrickte „afrikanische Moderne“ in ihrem konkreten Kontext unverständlich bleibt, ist kaum verwunderlich. „Ich glaube nicht an eine einzige Kunstgeschichte“, hat Enwezor betont. Seine viel gelobte Ausstellung beweist gerade das Gegenteil. Dass darüber keine Diskussion stattfindet, liegt sicher nicht im Interesse des „documenta“-Leiters – schließlich will er die Auseinandersetzung.

Das von Okwui Enwezor herausgegebene Buch „The Short Century“ ist im Prestel-Verlag erschienen (128 DM) und über den Buchhandel erhältlich.