Ein Wegweiser für die Toleranz

Leo Baeck engagierte sich für ein deutsches Judentum, das in der Hinwendung zu Mystik und wieder entdecktem „Eigenen“ nach mehr Identität suchte. Doch der Nationalsozialismus machte dieses Vorhaben zunichte. Eine Ausstellung in Frankfurt markiert nun Leben, Werk und Schicksal des Rabbiners

Als pflichtbewusster Kantianer konnte Baeck seine jüdischen Glaubensgenossen nach 1939 nicht verlassen

von RUDOLF WALTHER

Selten kommen all die Elemente der spannungsvollen, widersprüchlichen und katastrophal endenden Geschichte des deutschen Judentums zusammen. Plastisch wird dieser Weg der Emanzipation, Assimilation, Ausgrenzung und Vernichtung im Leben, Werk und Schicksal des Rabbiners und Religionsforschers Leo Baeck. Zu seiner Geschichte gehört auch, dass es bis heute keine wissenschaftlichen Standards genügende Biografie Baecks gibt und dass es fast fünfzig Jahre gedauert hat, bis eine Ausstellung zustande kam. Das Jüdische Museum in Frankfurt zeigt jetzt weltweit erstmals eine Ausstellung über Leben und Werk der Symbolfigur des deutschen Judentums im 20. Jahrhundert. Fritz Backhaus und Daniela Eisenstein haben die Materialien für die übersichtliche Ausstellung zusammengetragen und die Beiträge für den informativen Katalog organisiert.

Leo Baeck wurde am 23. Mai 1873 in Lissa in der preußischen Provinz Posen als Sohn eines Rabbiners geboren. Hier bildeten die 6,4 Prozent jüdischen Einwohner – fünfmal mehr als im Durchschnitt des Kaiserreichs – eine starke und geachtete Minderheit, die zwischen deutschen Protestanten und polnischen Katholiken eine ausgleichende und liberale Mittlerrolle spielte. Nach der Matura absolvierte Leo Baeck eine Rabbinerausbildung am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau, der ältesten jüdischen Hochschule in Deutschland. Ab 1893 studierte er in Berlin und promovierte 1895 bei Wilhelm Dilthey mit einer Arbeit über Spinoza. Von 1897 bis 1907 war er Rabbiner im schlesischen Oppeln, von 1907 bis 1912 in Düsseldorf. Ab 1913 und bis zu seiner Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt (Januar 1943) bekleidete er ein Rabbinatsamt in Berlin und unterrichtete gleichzeitig an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“.

In den Auseinandersetzungen zwischen den liberalen, orthodoxen, ostjüdischen, zionistischen und antizionistischen Fraktionen nahm Baeck eine vermittelnde Funktion ein und vertraute auf Toleranz und Neutralität als Wegweiser seines Handelns. Das hinderte ihn jedoch nicht, in wichtigen Fragen eindeutig Stellung zu beziehen: Bereits 1897 votierte er gegen eine Erklärung des „Allgemeinen Rabbinerverbandes“, die sich im Namen von „Religion und Vaterlandsliebe“ von der zionistischen Bewegung distanzierte.

Baeck tat dies jedoch nicht, weil er dieser Bewegung viel abgewinnen konnte, sondern aus Protest dagegen, dass Juden Zionisten zu religiösen Ketzern machen wollten. Aus dem gleichen Motiv setzte er sich für einen Berliner Rabbinerkollegen ein, der entlassen worden war wegen angeblicher zionistischer Propaganda im Religionsunterricht: „Was Ihnen widerfahren ist, ist so illiterat, so unreligiös und so unjüdisch, daß man kaum begreifen will, wie es im Namen einer jüdischen Religionsgemeinschaft, die sich liberal nennt, hat geschehen können.“

Den Ersten Weltkrieg verbrachte Baeck an der militärischen Front als Feldrabbiner. Insgesamt waren nach dem September 1914 rund 30 Rabbiner im Kriegseinsatz, in dem sie Feldgottesdienste abhielten, Verwundete betreuten und Tote begruben. Die „Burgfriedenrede“ Kaiser Wilhelms II., der plötzlich „keine Parteien, sondern nur noch Deutsche“ kennen wollte, schlug auch bei der jüdischen Bevölkerung ein. Baeck kompilierte ein „Feldgebetsbuch für die jüdische Mannschaft des Heeres“, das auch „vaterländische Lieder“ in deutscher Sprache enthielt. Es wurde – von den jüdischen Gemeinden finanziert – in 17.000 Exemplaren gedruckt. Im Unterschied zur protestantischen und akademischen Elite, die für den „Gott der Deutschen“ bzw. für die „deutsche Kultur“ die Kriegstrommel rührten, verfiel Baeck jedoch nicht in dumpfen Chauvinismus, obwohl auch er sich mit bedenklichen Worten um „eine Sinngebung des Kriegsgeschehens“ (Ulrich Sieg) bemühte.

Bei Kriegsende verabschiedete sich Baeck vom Machtstaatsdenken („Das Streben nach der bloßen Macht ist am letzten Ende Selbstvernichtung“) und hegte zunächst große Hoffnungen auf eine doppelte Erneuerung – eine politische im Namen der Gleichberechtigung und eine religiöse im Sinne einer „jüdischen Renaissance“: „Eine neue Zeit will beginnen, eine Zeit, die an den alten preußischen Idealismus wieder anknüpfen will, in der weithin auch Ideen, die aus dem jüdischen Geiste geboren sind, sich durchsetzen wollen ... Die Welt will anders werden.“

Solche Erwartungen, die auch mit Namen wie Franz Rosenzweig und Martin Buber verbunden sind, gediehen kaum über Ansätze hinaus. Eine wissenschaftliche Diskussion unter Gleichberechtigten über Judentum und Christentum, wie sie Leo Baeck und andere Religionsforscher intendierten, kam weder vor noch nach dem Ersten Weltkrieg zustande.

Die angestrebte Verlebendigung der jüdischen Religion sollte dadurch erreicht werden, dass Mystik, Irrationales und das wieder entdeckte „Eigene“ in der religiösen Praxis stärker berücksichtigt wurden. Das hoch riskante Vorhaben stand in einem unübersehbaren Spannungsverhältnis zur Hochkonjunktur des Irrationalen in der rassistischen Propaganda und in antisemitischen Ausschreitungen. In den neun Jahren zwischen 1923 und 1932 kam es in Deutschland zu 112 Friedhofsschändungen.

Zwischen 1933 und 1943 war Baeck Präsident der „Reichsvertretung der Deutschen Juden“, die sich zweimal umbenennen musste: 1935 zur „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“, weil Juden ihren rechtlichen Status als Staatsbürger verloren hatten, und 1939 zur „Reichsvereinigung“, weil Juden jetzt faktisch nichts mehr vertreten konnten. Baeck hätte die Möglichkeit gehabt, wie seine Frau und Kinder aus Deutschland auszuwandern. Aber das ausgeprägte Pflichtbewusstsein des jüdischen Kantianers hinderte ihn daran, seine Glaubensgenossen zu verlassen. Baeck blieb und arbeitete, bis man ihm auch dies verbot. Vor seiner Deportation musste er den „Heimkaufsvertrag H“ unterschreiben, mit dem er Geld und Wertpapiere im Wert von 14.500 Reichsmark formell an die „Reichsvereinigung“ (faktisch an die Gestapo) abtrat und damit das illusionäre Recht erwarb, in einem „Altersheim“ untergebracht zu werden.

Bevor die Nazis Baeck nach Theresienstadt schickten, wollten sie jedoch noch sein Wissen als Religionshistoriker abschöpfen. Im Auftrag des „Referats IV B 4 (Juden)“ im Reichssicherheitshauptamt verfassten Baeck und seine Mitarbeiter eine 1.600 Seiten starke Studie über „Die Entwicklung der Rechtsstellung der Juden in Europa, vornehmlich in Deutschland“. Sturmbannführer Regierungsrat Suhr war persönlich bemüht, dass Baeck die Bücher aus der für ihn nicht mehr zugänglichen Preußischen Staatsbibliothek erhielt. Auch der deutsche Widerstand, zu dem Baeck Kontakte hatte, interessierte sich – aus ganz anderen Motiven – für diese historische Studie, um sich auf den „Tag danach“ vorzubereiten. Als Häftling in Theresienstadt mit einem Einzelzimmer leicht privilegiert, verweigerte Baeck zunächst jede Mitarbeit bei der „Selbstverwaltung“ im „Ältestenrat“. Maßgeblich beteiligt war er jedoch beim Bildungsprogramm mit Vorträgen über Philosophie und Religionsgeschichte. Insgesamt hielten 516 Referenten 2.280 Vorträge. Nachdem Paul Eppstein im Dezember 1944 von den Nazis ermordet worden war, wurde Baeck gezwungen, im „Ältestenrat“ mitzuwirken, dem die Lagerleitung perfiderweise die Auswahl der Opfer für den Transport in die Vernichtungslager übertragen hatte. Für Baeck, der seit August 1943 wusste, was in Auschwitz und anderswo vorging, war „die Gratwanderung zwischen Verantwortung und Verstrickung“ (Beate Meyer) eine unerhörte psychische Belastung. Er erlebte das Lager als „ein Experiment des Willens zum Bösen“. Nach dem Krieg ließ sich Baeck in London nieder, unterrichtete regelmäßig für einige Monate im Jahr am Hebrew Union College in Cincinnati (Ohio) und unternahm zahlreiche Vortragsreisen. Leo Baeck gab dem, wofür er selbst als Symbol stand – ein assimiliertes, liberales, deutsches Judentum –, nach 1945 keine Chance mehr: „Die Geschichte des deutschen Judentums ist definitiv zu Ende ... So viel Mord, Raub und Plünderung, so viel Blut und Tränen und Gräber können nicht ausgelöscht werden.“ Er starb am 2. November 1956.

Bis 14.8., Jüdisches Museum Frankfurt. Katalog: 38 DM