Das Grollen der Straße, in Watte gepackt

Wann wird die Stadt zur Kunst? Und wann wird die Kunst zur Stadt? Die Flut der Klanginstallationen verwandelt Berlin in ein begehbares Kunstwerk. Von Schallmassagen am Potsdamer Platz bis zum Radiojingle-Potpourri in der Pariochialkirche: Ein Rundgang durch aktuelle akustische Räume

von BJÖRN GOTTSTEIN

Die Grenzen zwischen den Geräuschen des städtischen Alltags und der Klangkunst sind hinreichend aufgeweicht. Der musikalisch geschulte Hörer versteht es längst, dem Rauschen der Großstadt mit ästhetischem Genuss zu folgen. John Cage etwa erklärte den Verkehrslärm auf der Brooklyn Bridge zu seinem Lieblingsstück. Umgekehrt verstehen sich Komponisten und Klangkünstler heute darauf, ihre Arbeiten in den jeweiligen akustischen Kontext einzubinden. Wo fängt die Stadt an Kunst zu sein? Und wann wird die Kunst zur Stadt?

Auf dem Alexanderplatz steht derzeit ein unscheinbarer Bürocontainer, ganz so, als hätte eine Baufirma den grünen Kasten vergessen. Dass sich im Innern des Containers eine akustische Oase befindet, wird dem zufällig vorbeistreunenden kaum offenbar. Man muss schon hinein, sich die Schuhe ausziehen und einige Minuten Zeit nehmen, um die Installation „Box 30/70“ von Sam Auinger und Bruce Odland recht zu würdigen. Im schummrigen, mit filziger Auslegeware bestückten Innern werden die Geräusche des Alexanderplatzes in Watte gepackt, gefiltert und von einem warm summenden Bass grundiert. Vor dem Container strebt ein Metallrohr quer, ein dareingefasstes Mikrofon empfängt die Klänge der Umgebung vom Blechzylinder gefiltert. Dann wieder kappt die Installation die Stadt, das kleine Fenster zur Straße schließt sich, und man ist allein mit kleinen Samples und Staffagen aus dem „Alphabet of Sounds“, das Auinger und Odland liebevoll deklinieren. In einer Ecke haben die Klangkünstler ein Tagebuch angelegt, denn ihre Box ist auf einer Reise um Europa. Hier erfährt man, dass Rotterdam heller klingt als Berlin, aber nicht so dumpf wie Witten im Ruhrgebiet. Oder man hört sich nach Arizona, wo das Bellen eines Hundes, das Herannahen eines Lasters aus Tagesmarschentfernung herüberschallt.

Das Künstlerduo Auinger/Odland taucht den Hörer unter die Stadt. Das galt mehr noch für ihre Installation „Pool“ am Potsdamer Platz, die gestern vorzeitig eingestellt wurde, weil der gesponsorte Ausstellungsraum in den Parkkolonnaden dem austragenden Klangkunstforum nicht länger zur Verfügung steht. Auch „Pool“ strahlt gefiltertes Straßenambiente in einen mit blauem, welligem Licht besaiteten Raum. Eine Boenschräge entpuppt sich als monströse Bassmembran, auf der sich der Hörer vom Schall massieren lässt.

Auinger und Odland verschmelzen Alltag und Kunst, indem sie das Grollen der Straße in ihre Arbeit integrieren. Eine zweite Möglichkeit der Öffnung von Kunst zur Stadt liegt in der Zugänglichkeit einer Installation. Georg Klein hat für „Transmission“ zwei monströse, zur Gasse gebogenen Metallplatten vor dem Eingang zur Philharmonie postiert. Hier geraten Passanten unversehens an Kunst, indem man die Installation schlicht der Kürze halber durchschreitet. Auf zwanzig Metern wird man von Sprachklängen und Windgeräuschen begleitet, bevor man den Durchgang nach wenigen Sekunden wieder verlässt. Das ist Häppchenkunst des Videoclipzeitalters, aber eben auch ein stimmiges Konzept, das einen so kurz wie unvermittelt in seinen Bann schlägt.

Wollte man mäkeln, dann hätte man den Arbeiten von Klein, Auinger und Odland vorzuwerfen, woran viele Installationen wohl von Natur aus kranken. Sie wirken klinisch, steril und aufgeräumt. Es gehört zum Ethos der Klangklempner, den musikalischen Produktionsprozess zu verschleiern, die Klänge hinter einem Vorhang zu verstecken. Die Gattung Installation ist per Definition ein postindustrielles Phänomen, das in der von Schweiß gezeichneten Performance sein Gegenstück findet. Und es ist eben deshalb so erfrischend, wenn man stattdessen auf unaufgeräumte und fahrlässig verkabelte Räume stößt.

Bis gestern hatte die Parochialkirche eine Arbeit ausgestellt, die vor Sinnesreizen nur so strotzte. Für „Yokomono“ haben Pedro Bericat und Geert-Jan Hobijn einige Dutzend Kofferradios mobilisiert, die geradezu fahrlässig im Glockenturm der Parochialkirche aufgereiht waren. In einer umwerfenden Collage tönte hier der Berliner Äther um die Wette. Zwei Mobileisenbahnzüge sorgten überdies für einen technisch wohlfeilen Surroundsound. Das Sortiment fand seinen Höhepunkt in kleinen roten Plastik-VW-Buss-Sendern, die eifrig im Kreis fuhren und die Radios mit Abwegigem füttern. Den Höhepunkt erlebte man zur vollen Stunde, wenn das Konzert sich zum Jinglepotpourri steigerte und man in den folgenden Minuten nicht auch nur ein Wort erkannte und dennoch verstand: Hier werden Nachrichten verlesen, und zwar viele.

Die Installation „Yokomono“ weicht am Donnerstag einer Installation von Phil Niblock, die wie ihr Vorgänger und die „Box 30/70“ Teil des Klangkunstfestivals „Format5“ ist. Mit Niblock, dessen ästhetizistische Walls of Sound mittlerweile regelrecht hysterisch-kennerhaft goutiert werden, kehrt Sauberkeit in den Installationsbetrieb zurück. Denn Niblock gedenkt mit „light/sound patterns“ den Raum vollständig zu verdunkeln, um Klang mit Lichtimpulsen zu triggern und die Aura des Unersichtlichen wieder herzustellen.

Die Installationsflut verwandelt Berlin, wenn auch bloß punktuell, in ein Kunstwerk, was die derbe und spröde Oberfläche der Stadt gut verträgt. Was den derzeitigen Arbeiten fehlt, ist der Anreiz zur Bleibe. Klangkunst wird gerne, und das ist Teil ihrer Ausstrahlung, en passant konsumiert. Erst jüngst entwickelt sich das Raumambiente zur Lounge – zu einem Ort, an dem man neben dem Klang verweilt. „Format5“ bietet an den kommenden beiden Wochenenden immerhin die Möglichkeit, in der skurril ausgestatteten, mit Grasflächen ausgelegten Lounge den Aufenthalt über das einsichtige Aha hinaus auszudehnen.