Der surreale Hubschrauber

Wie Ausflügler zur falschen Tageszeit, ohne Sandwiches, Kaffee oder Wein: Leute aus Bosnien, Kroatien oder dem Kosovo, Einheimische und Journalisten, sie alle warteten auf die Ankunft von Slobodan Milošević im Gefängnis von Scheveningen

von CAROLINE FETSCHER

Donnerstagnacht vergangene Woche suchten wir die Wirklichkeit. Vielleicht fünf-, sechshundert Den Haager und einige ausländische Reporter hofften auf Eindrücke, die eine Nachricht real machen sollten, die wir kaum fassen konnten. Versammelt vor dem Gefängnis im Badeort Scheveningen warteten wir auf Slobodan Milošević’ Ankunft, während es kühler wurde, der Mond mit den Wolken Versteck spielte und der Seewind auffrischte. Es war nicht real.

De Leute aus Bosnien, Kroatien und Kosovo, die im Exil in den Niederlanden leben, waren ebenfalls vor die Tore des Gefängnisses gepilgert, wie an eine surreale Wallfahrtstätte. Nüchtern und trunken standen wir da, Ausflügler zur falschen Tageszeit, ohne Kaffee, Sandwiches, Wein oder Musik. Wir warteten.

Wie eine Erscheinung am Himmel tauchte gegen halb zwei morgens ein Helikopter über dem Backsteinbau auf. Er war laut und schnell, aus Sicherheitsgründen flog er ohne Licht. Sacht senkte er sich in den Hof des Gefängnisses herab, hinter die Mauer, vor der wir standen. Dann wirbelte im Flutlicht auf dem Hof jenseits der Mauer eine Staubwolke auf, der Helikopter erhob sich wieder und schwirrte, dunkel wie er gekommen war, in die Nacht zurück.

Das war das Bruchstück Realität, auf das sie gehofft hatten, Flüchtlinge, Journalisten, Neugierige, Nachbarn. Mehr würde von ihr nicht zu sehen sein. „Ich ärgere mich, dass ich ihm schon wieder meine Lebenszeit geschenkt habe, ich schäme mich fast“, sagte ein bosnischer Freund. Der Freund hat einen niederländischen Pass und vermisst Sarajevo, seit acht Jahren, als er mit 24 flüchtete. Er spricht noch immer nicht gut Holländisch, denn er lebt unter Exilanten und ist mit halbem Herzen noch da, wo er in seiner Sprache arbeiten konnte, am Theater. Was seinen Freunden und seiner Familie geschehen ist, die Wirklichkeit, die vom Krieg dominiert wurde, könne keiner von uns verstehen, wiederholt er oft.

Der Krieg, die Zukunft, die Ankunft des Helikopters, nichts ist für ihn Realität. Allenfalls seine wechselnden Jobs. Jetzt ist einer der Schuldigen, dem der Freund aus Sarajevo und hunderttausende andere ihr entzweigerissenes Leben verdanken, am selben Ort angelangt wie sie. Sie sind frei, und er ist eingesperrt, und doch fühlen sie es manchmal noch umgekehrt. Der Helikopter und sein unfreiwilliger Passagier haben mit der Wirklichkeit wenig zu tun, sagt der bosnische Freund. Die Frauen, die beim Massaker von Srebrenica ihre Männer, Brüder, Väter, Söhne und Neffen, Onkel Großväter und Cousins verloren, die haben mit der Wirklichkeit zu tun. Und ich, sagt er, kann ihnen nicht helfen. Das Recht erscheint dem bosnischen Freund abstrakt, so gern er, sagt er, jetzt weiß, dass der Mann hinter Gitter ist, der in das Leben aller, die aus seiner Stadt stammen, hineinregierte und vor allem ein Gefühl hinterließ: Angst.

„Milošević“ ist ein Symbol, und er inszeniert sich so, das machte er bei seinem ersten Erscheinen vor Gericht deutlich. Er inszeniert sich als die Verkörperung von Rechtlosigkeit, von einer Anomie, die er als Autonomie tarnt. Damit demonstriert er seine nahezu mythische Macht. Die bestand darin, anderen den Glauben an die Wirklichkeit auszutreiben. Er vertrieb sie in ein Exil, nicht nur nicht aus Sarajevo, Zagreb, Belgrad, Dubrovnik, sondern aus sich selbst.

Diesen Dienstag erhielt der Angeklagte die erste Gelegenheit zu einem öffentlichen Auftritt. Er nutzte sie. Ohne Anwälte war er vor dem Tribunal erschienen, das er nicht anerkennt. Das Schauspiel dieses Angeklagten löste sogar bei dem erfahrenen britischen Richter Richard May Irritation aus. Nachdrücklich wies er den Angeklagten darauf hin, dass er sich jetzt unter der Rechtsprechung dieses Gerichtes befinde. Staatsmännisch zurückgelehnt hörte sich der Schauspieler Milošević an, was da geredet wurde. Sein Theater ist unheimlich, weil es, anders als das Theater des bosnischen Freundes, nicht zwischen Wirklichkeit und Bühne unterscheiden will. Überall ist Bühne, und die Ermordeten sind so virtuell wie das UNO-Tribunal. „Mr. Milo- šević, wollen Sie die Klageschrift vorgelesen bekommen oder nicht?“, fragte der Richter. „That’s your problem“, war die sarkastische Antwort. Das ist Ihr Problem, schien er zu sagen. Sie sind das Gesetz. Ich stehe daneben.

Einige Augenblicke lang gab es ein Vakuum im Gerichtssaal in Den Haag. Recht und Respekt, Sinn und Sprache schienen zu implodieren.

Die Atmosphäre der Anomie, die Slobodan Milošević produziert, ist schwer zu durchbrechen. Trotzdem hat er, bei aller Taktik, gerade hier sein größtes Geheimnis offenbart: Die Wirklichkeit im andauernden Kippzustand zu halten, Dialog zu sabotieren, anstatt ihn zu suchen, das ist seine Technik des systematischen Irreführens. Der erratisch herbeischwebende Helikopter ohne Licht passte zu ihm. Vor Gericht schien es, als sei er gar nicht ausgestiegen.

Erst wenn seine Exmitstreiter gegen ihn aussagen, wird er auch ein Problem haben. Dann ist er nicht mehr an Bord der surrealen Helikopters. Dann beginnt die Wirklichkeit in diesem Prozess, den manche schon zum „Prozess des 21. Jahrhunderts“ ernannt haben. Er wird in den Schulbüchern stehen. Und er kann zur Aufklärung über den Charakter der Diktatur werden. Zu einem Lehrstück für Millionen werdender Demokraten weltweit.