Peking bewirbt sich um die Olympischen Sommerspiele 2008: So müssen diese chinesischen Schriftzeichen gelesen werden. Am Freitag entscheidet das Internationale Olympische Komitee in Moskau, ob diesem Wunsch entsprochen wird. Ein Plädoyer für Chinas Weg aus der Isolation

von GEORG BLUME

Es wird schrecklich. Wenn die Kader der Kommunistischen Partei in Peking die Olympischen Sommerspiele des Jahres 2008 organisieren, werden die Rasenflächen der Stadt während der im Sommer üblichen Dürre grün gespritzt werden. Wanderarbeiter ohne Aufenthaltserlaubnis werden die Stadt verlassen müssen – und das sind immerhin ein Viertel der Pekinger.

Alles Leben wird von den Straßen verschwinden: die Gemüse- und Kleidermärkte in den Seitengassen, die Friseure auf den Bürgersteigen, die Fahrradklempner an den Ampeln – wo man hinschaut, werden Polizisten und Touristen die aufgeräumten Boulevards säumen. Nur den hundert McDonald’s-Restaurants der Stadt wird das Privileg gewährt werden, Straßentische aufzustellen.

Dabei ist es schon heute entnervend genug. Wegen der Bewerbung Pekings um das größte Sportereignis der Welt hat sich die Stadt verändert – am meisten dort, wo wir wohnen: in der Nähe des riesigen Arbeiterstadions, vor dem jetzt eine große Tafel den olympischen Fußballwettbewerb ankündigt. Rings um das Stadion ist das idyllische alte, staubige Peking nicht mehr wiederzuerkennen: Die Trottoirs, die es früher zum Teil gar nicht gab, werden rot gepflastert. Als wollte man mit ihnen die Behaglichkeit deutscher Fußgängerzonen nachbauen. Unter Alleebäumen werden grüne Scheinwerfer angebracht, die abends in die Blattkronen leuchten. Das soll ein wenig südkalifornische Ferienatmosphäre in der Arbeiterstadt erzeugen. Hinzu kommen schlanke, grüne Fußgängerbänke, die die üblichen Plastikhocker vor den Restaurants verdrängen.

Vielleicht hat das mit dem wichtigsten Konkurrenten um die Olympischen Spiele zu tun: Auch in Paris sind die öffentlichen Bänke grün gestrichen. Doch grüne Bänke passen nicht ins graue Peking. Zudem wittert man hinter jeder urbanen Schönheitsmaßnahme eine korrupte Ordnungsmacht, die den kleinen Leuten schadet. Denn wo sind die vielen hundert Gemüse-, Eier-, und Fleischhändler geblieben, die die Straße von unserer Haustür zum Stadion belebten? Wohin sind die Tofubäcker entschwunden, die den Schülern frühmorgens auf dem Weg zur Schule ein Frühstück anboten? Die olympischen Planer haben sie alle fortgejagt. Damit Peking die Welt empfangen kann: in solchen Schuppen wie dem restaurierten „Capitol Club“ im Park des Arbeiterstadions, in dem die Zuhälter nur dann nicht zu Zurückhaltung ermahnt werden, wenn gerade die Inspektoren des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) zu Gast sind.

Es wird also nicht schön werden. Und doch müssen wir uns schleunigst mit dem Gedanken anfreunden, dass in sieben Jahren in Peking Olympische Spiele stattfinden. Bei der Wahl des IOC am kommenden Freitag ist Peking längst Favorit vor seinen Konkurrenten Paris und Toronto. Vor allem aber leben wir nicht allein in dieser Stadt, und alle anderen sind für dieses Fest.

Zu unseren guten Nachbarn zählt Li Ning, dessen achtzehn Monate alten Sohn wir täglich in den Armen seiner amerikanischen Erzieherin vor unserer Haustür begrüßen. Der Vater, muskulös und klein gebaut, ist Legende – ein chinesischer Max Schmeling. Als einziger Chinese schaffte er es, vom amerikanischen Nachrichtenmagazin Time auf die Liste der hundert besten Sportler des 20. Jahrhunderts gewählt zu werden.

Li Ning gewann als Turner drei olympische Goldmedaillen. Bei den Olympischen Spielen in Sydney im vorigen Jahr fungierte er als oberster Aufseher der Turnrichter – so hoch ist sein Ansehen in der Welt. Daheim hat er inzwischen die größte private chinesische Sportartikelfirma aufgebaut – sein Name prangte in Sydney auf fast allen Hemden chinesischer Sportler.

Wer nun den Nationalhelden Li Ning über die Bedeutung der Olympischen Spiele für China laut nachdenken hört, vergisst schnell Polizisten und Parkbänke. „Viele verstehen unter der Austragung der Olympiade eine Ehre fürs Vaterland“, erklärt Li. „Doch für mich verköpern die Olympischen Spiele eine Art moderne Lebensweise: Sie sind Ausdruck von Selbstbewusstsein, Fähigkeit zur Selbstdarstellung und Mut.“ Li deutet damit an, dass China genau diese drei Dinge vermissen lässt.

Dem Land, so lassen sich seine Worte interpretieren, fehle die Souveränität, sich trotz seiner stolzen Geschichte dem Westen gegenüber als gleichrangig zu empfinden. Erfolge jenseits von kommunistischen Propagandabekundungen der Öffentlichkeit darzustellen, dazu haben Chinesen nur wenig, eigentlich gar kein Talent. Und nicht zuletzt gebricht es dem Einzelnen oft an Mut, seine Stärken voll auszuspielen.

Die Teilnahme an Olympischen Spielen wäre demzufolge eine einmalige Chance für das Land und seine Bürger, eigene Minderwertigkeitskomplexe zu bewältigen. „Was nun die Bewerbung Pekings betrifft“, fährt Chinas Jahrhundertsportler fort, „so sagen viele: ‚Wir müssen es unbedingt schaffen.‘ Doch auch hier bin ich anderer Meinung. Schon die Bewerbung lässt uns am olympischen Geist teilhaben.“

Li vergleicht China und Deutschland. Deutschland, so erinnert er, habe bei den Olympischen Spielen in Sydney nicht gerade viele Medaillen gewonnen, während China den dritten Platz im Medaillenspiegel belegte und damit einen historischen Durchbruch erzielt habe. „Trotzdem war das für Deutschland keine Katastrophe“, betont Li. „Weil Sport in Deutschland Teil des Lebens ist. Es finden dort jeden Tag kleine oder große Spiele statt, vom Schulsportfest bis zu internationalen Wettbewerben. Und am Wochenende besuchen viele Familien Sportereignisse. Wie anders ist das bei uns in China!“

Damit plädiert Li für eine Verbürgerlichung des Sports in der Volksrepublik. Die Olympischen Spiele in Peking soll keine Militärparade ersetzen, sondern die Bürger lehren: Mitmachen ist alles beim Sport – und mitmachen kann jeder. Damit altertümlicher vaterländischer Kriegsgeist in modernen sportlichen Kampfgeist umgesetzt wird. Damit China verlieren lernt – und zwar ohne Feind, den zu kennen für Mao noch die erste aller Aufgaben war.

Sport ist für Li ein Stück alltäglicher Zivilisation, die China nicht kennt: Die Massen üben hier Schattenboxen, nicht Boxen. Nur wenige, wohlhabende Schulen besitzen gute Sporteinrichtungen.

Tatsächlich steht das Leben von Turner Li für den denkbaren Erfolg Olympischer Spiele in der Volksrepublik. Mit den typischen Stärken eines Chinesen – Disziplin, Beweglichkeit und Konzentrationsfähigkeit – kam Li beim Turnen groß heraus und erhielt Applaus von allen Turnfreunden der Welt. Den hart erkämpften Erfolg setzt er heute beim Aufbau des eigenen Unternehmens fort.

Genauso könnte es auch im Jahre 2008 laufen: Die Volksrepublik China würde dann als Sportmacht mit den Vereinigten Staaten konkurrieren, bekäme weltweite Anerkennung dafür und würde anschließend, mit sich selbst versöhnt, ihren wirtschaftlichen Aufbau fortsetzen.

Was steht dem im Wege? Die Entscheidung für Peking als Austragungsort der Spiele von 2008 ist greifbar nahe, seit das amerikanische Außenministerium vor einigen Tagen offiziell bekannt gab, dass Washington dem chinesischen Anliegen nichts entgegenzusetzen habe. Ganz im Gegenteil: Die konservative Regierung von Präsident George W. Bush betrachtet die Aussicht auf Olympische Spiele in Peking nunmehr als positiv und dazu geeignet, China zur Verbesserung der Menschenrechtslage und zu Zurückhaltung hinsichtlich militärischer Aktionen gegen Taiwan zu bewegen.

Nicht anders sieht das die gewohnt chinakritische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Ihr Asienexperte Sidney Jones beteuerte Anfang Juni in einem Brief an IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch, dass seine Organisation „nicht gegen die Austragung der Spiele in China opponiere“. Stattdessen empfahl Jones für den Fall, dass Peking den Zuschlag bekommt, die Gründung eines IOC-Überwachungskomitees für Menschenrechtsfragen.

Noch zu Jahresbeginn sah es so aus, als könnte sich eine von rechten Republikanern inspirierte Bush-Administration mit linken Menschenrechtsorganisation zu einer breiten westlichen Front gegen die chinesische Bewerbung zusammenfinden. Paradoxerweise war es die amerikanisch-chinesische Flugzeugkrise im Frühjahr, die ein solches Bündnis verhinderte.

Der Zusammenstoß eines US-amerikanischen Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Jet weckte über Nacht die Gefahr eines Kalten Kriegs in Asien. Daran aber hatten weder Peking und Washington noch die Menschenrechtsorganisationen Interesse. In der Folge bliesen alle Seiten zum rhetorischen Rückzug – und die Olympiade, über deren Vergabe auf einer IOC-Vollversammlung in Moskau entschieden werden wird, entzog sich mehr und mehr dem politischen Gefecht.

Natürlich gibt es immer noch Gegner: „Wo systematisch und massiv Menschenrechte verletzt werden, können keine Olympischen Spiele stattfinden“, wettert die taz-nahe Journalistenorganisation „Reporter ohne Grenzen“. Und die Pekinger Vorzeigedissidentin Dai Qing behauptet im taz-Gespräch: „Die Vergabe der Olympischen Spiele an Peking wäre ein Sieg für den chinesischen Nationalismus.“

Das sind gewichtige Einwände – doch nur aus westlicher Sicht. Auch jene Chinesen, die von den Menschenrechtsverletzungen ihrer Regierung wissen und sie – so weit unter den Kommunisten ohne Sanktionen möglich – verurteilen, sprechen sich in aller Regel für diesen prestigeträchtigen Event aus. „In unserer Leidenschaft für die Olympischen Spiele zeigt sich der Wunsch, Teil der internationalen Gemeinschaft zu sein“, glaubt Mo Yan, ein weltweit in viele Sprachen übersetzter Schriftsteller, der im vergangenen Jahr die Courage aufbrachte, die Vergabe des Literaturnobelpreises an den Regimekritiker Gao Xingjian öffentlich zu preisen.

Mo, der in seinen Romane wie „Das rote Kornfeld“ Chinas dörfliche Traditionen beschreibt, sieht in der Olympiabewerbung ein Zeichen des Umbruchs: „China legt Verschlossenheit und Isolation ab. Unsere Bürger begreifen sich langsam als Bewohner des globalen Dorfs – und als solche wollen sie alles Neue mitmachen, natürlich auch die Olympiade.“

Ebenso eindeutig definiert der Pekinger Nachwuchsautor Ding Tian das olympische Anliegen der Chinesen: „Wir haben noch nie die Olympischen Spiele ausgetragen. Deshalb schämen wir uns. Außerdem sind wir Chinesen schaulustige Menschen, die es gern haben, wenn etwas passiert.“

Nicht einmal einem Intellektuellen wie Ding fällt dabei ein, dass die Olympischen Spiele den Nationalismus bestärken könnten. Was auch daran liegen mag, dass der offizielle Propagandaaufwand für die Spiele in diesem Jahr aus Sicht der meisten Pekinger geringer ausfällt als vor acht Jahren, als sich die Stadt schon einmal – erfolglos gegen die Konkurrenz aus dem australischen Sydney – für die Olympiade bewarb.

Westliche Beobachter sagen deshalb voraus, dass China, falls es bei der Wahl entgegen allen Anzeichen unterliegen sollte, nach einem zweiten Misserfolg empört und beleidigt reagieren werde. Dem widerspricht der Neonationalist Wang Xiaodong: „Es gibt bei uns eine alte Redensart: Beim ersten Mal setzt man alle Kräfte ein, beim zweiten Mal wird man schwächer, und beim dritten Mal ist man erschöpft und kampfunwillig. Wenn Peking diesmal verliert, wird China schlicht das Interesse an der Olympiade verlieren.“

Wang, der sich als harscher Kritiker des Westens im Internet einen Namen gemacht hat, beteuert, dass seine Freunde und Nachbarn nichts von der bevorstehenden Entscheidung in Moskau wüssten. Das ist eine wichtige Beobachtung: Anders als 1993, als die Jubelfeiern für die Wahl Pekings zur Olympiastadt langzeitig vorbereitet wurden, ist die Olympiahysterie bislang an der Öffentlichkeit vorbeigegangen. Das mag sich erst im Fall eines Siegs ändern.

Darauf kommt es schließlich an: gewinnen, aber auch gewinnen lassen. Die Chinesen hatten lange das Gefühl, dass man sie nicht gewinnen lassen wollte. Das lag nicht zuletzt an den vom Westen vorgegebenen Sportarten: Die chinesische Kampfsportart Wushu gehört bis heute nicht zu den olympischen Disziplinen. Japanische Sportarten wie Judo wurden dagegen frühzeitig aufgenommen – für Chinesen kein Zufall, weil auch Japan zu den Kolonialmächten zählte.

Diese Geschichten aber sollen 2008 endgültig vergessen sein. Dann wären es Chinesen, die nicht mehr gewinnen lassen: zum Beispiel beim Tischtennis, wo kaum mehr andere Nationen um die Medaillen mitspielen. Oder beim Schwimmen, wo man eines Tages den zweiten Durchbruch der Chinesen erwartet – dann ohne Doping. Peking wäre, wenn es so weit käme, immer noch keine schönere Stadt. Die Begleitmaßnahmen der Partei würden Bürgerrechte nach Strich und Faden missachten. Aber die Chinesen wären am Ende selbstbewusster und ausgeglichener.

GEORG BLUME, 38, arbeitet seit 1996 mit seiner Frau Chikako Yamamoto, 41, als taz- und Zeit -Korrespondent in Peking