Silikonhelden zum Anbeißen

Mit künstlerischer Fantasie pointiert und realistisch bleiben: Bei den ersten Autorentheatertagen Hamburg waren vor allem Dramatikerinnen zu entdecken. Und das eine oder andere Monster auch

von KLAUS WITZELING

Neben den Mühlheimer Theatertagen, der Bonner Biennale und dem Heidelberger Stückemarkt hatten sich in den vergangenen Jahren die Autorentheatertage Hannover als wichtige Plattform für neue deutsche Dramatik etabliert. Nun ist das Forum für junge Stückeschreiber, dem heute arrivierte Autoren wie Dea Loher und Moritz Rinke einen Karriereschub verdanken, mit seinem Initiator Ulrich Khuon ans Hamburger Thalia Theater umgezogen, dessen Intendant Khuon seit dieser Spielzeit ist. Um der Hamburg-Premiere einen zusätzlichen Kick zu geben, durften – im Gegensatz zum bisherigen Verfahren – statt nur einem zwei Juroren die 164 eingesandten Texte sichten und mit ihrer Auswahl acht Tage lang „Intendant“ spielen. Roland Koberg, ehemals Kritiker der Berliner Zeitung, und Wolfgang Kralicek, Redakteur des Wiener Falters, entschieden sich für sieben Stücke, überwiegend Debütwerke junger, noch unbekannter Autoren. Vier wurden in Lesungen präsentiert – trotz der Hitze letzte Woche stets vor großem Publikum –, drei von ihnen in einer „Langen Nacht der Autoren“ in kurzfristig erarbeiteten Inszenierungen aufgeführt.

Eröffnet wurde die „Lange Nacht“ von einem Stück der 1971 geborenen Almut Tina Schmidt – geschrieben in den Pausen an ihrer Dissertation über Thomas Strittmatter. „Phoebe“ ist ein verbaler Schlagabtausch zwischen Mann und Frau. Eine Annäherung beim Reden über eine Abwesende. Eine Beziehungskiste, natürlich. Und doch mehr: eine Phobie. Ein Krimi. Ein Albtraumstück. Christian Schlüter hat es in klaustrophoebischer Enge zwischen Eierkartontapeten inszeniert. Phoebe existiert nur in der Zwiesprache von Ben (Jörg Lichtenstein) und Ines (Judith Rosmair): eine gemeinsame Zwangsvorstellung.

Als Zwangsvorstellung wird auch der unerfüllbare Traum von der Liebe in der Vampirfarce „Die Wiedergängerin“ von Soma Amos präsentiert. Die Literaturstudentin der Berliner Humboldt-Universität hat in ihrem Erstling einen rasanten Remix aus heutigen Sprachformen und dem Mythos von Tristan und Isolde vorgelegt. Stephan Rottkamp inszenierte die Liebenden als narzisstische Zombies aus der Warenwelt. Man kapiert zwar rasch, in welche Richtung die Blutsauger-Posse abfliegt, doch Amos bietet rotsaftigen Theaterstoff zum Festbeißen. Wenn sich das perfekte Silikonmonster (Karin Pfammatter) und der leichenblasse Unglückswurm (Natali Seelig) um den laschen Helden (Hans Löw) fetzen, regt sich trotz schriller Liebesdemontage so etwas wie ein alter Glaube ans echte Gefühl. Unter sardonischem Gelächter.

Ohnehin ging es die acht Tage recht fröhlich und locker zu. Trotz ernster Themenlage in Diskussion und Gastspielaufführungen: Ende der Arbeit, Auflösung von stabiler Identität und Existenz, Brutalisierung der Gesellschaft. Aus dem Stück „Schicht“ des in Magdeburg geborenen und heute in Berlin lebenden Autors Thilo Reffert wurden nur fünf eher komödiantische Szenen zum Stand der Dinge auf die Bühne gebracht – aber wie Armin Petras sie in seiner Inszenierung ins Groteske verzerrte, wurden die Risse hinter der scheinbar heilen, glatten Bühnen- und Gesellschaftsoberfläche umso schärfer sichtbar.

In Felicia Zellers Monodram „Vom Heinrich Hödel und seiner nassen Hand“ ist die Maske des Biedermanns hingegen still und leise brüchig. Hödel gefällt sich als Hobby-Lyriker mit Gedichten über das (abgeschnittene) „Ohr“, ist Händel-Fan mit Ambition zur Oratorien-Komposition und Scharfrichter in Plötzensee. Eine bizarre, an Thomas Bernhard erinnernde Konstellation, die Zeller mutig und selbstständig ausschlachtet.

Hödel stellte seinen ersten Poesieband in einer Lesung vor, die Peter Jordan las: ein Kabinettstück an komödiantischer wie sprachlicher Doppelbödigkeit. Den Monolog des musischen Mörders verwandelte der Schauspieler schlitzohrig in pointierten Dialog mit dem Zuschauer. Fasziniert und irritiert hörten sie Händel mit dem Henker.

Zeller selber ist eine gewiefte Interpretin ihrer sprachspielerischen Texte. Das bei Schriftstellern seltene Performertalent demonstrierte sie zur Eröffnung der Autorentheatertage: mit Kostproben aus ihrem Stück „Bier für Frauen“, worin sie floskelhafte Alltagsrede sarkastisch mit (erotischem) Situationswitz paart. Die Schwäbin hatte – genau wie die Hamburgerin Sigrid Behrens mit ihrem eher formal denn theatral bestechenden Text „Rapport“ – mehr Glück mit der Einrichtung der szenischen Lesung als etwa Guido Köster. Dessen ohnehin schwachen, fabulierlustig realistischen Straßenstrich-Impressionen „Indiskrete Blicke“ hätte eine stärkere Präsentation dringend Not getan.

Vielleicht wäre der altmodisch erzählende Außenseiter doch besser als Drehbuchautor beim Film aufgehoben.

„Die besten Stücke kommen von Autorinnen“, waren sich die Juroren Koberg und Kralicek in ihrer zur Eröffnung als Rede verlesenen geistreichen E-Mail-Korrespondenz einig. Sie wollten „aufpassen, dass das keine Frauentheatertage werden“, aber getan haben sie es nicht: Dramatikerinnen wie Darstellerinnen dominierten eindeutig. Bei allem Sinn für Realität bewiesen sie viel mehr Mut im Ausdruck künstlerischer Fantasien als ihre der Wirklichkeit verhafteten männlichen Kollegen.

Widersprüche unterliefen den Herren Juroren schon beim Katalog ihrer Auswahlkriterien. Keine Solostücke und Farcen, lautete die Devise. Doch Ausnahmen bestätigten die Regel. Es waren Monologe zu hören – wenn auch szenisch geschickt ins Dialogische transponiert.

Und das Finale geriet beinahe zum Farcen-Festival. Eine Festival-Farce? Keinesfalls. Nur die übliche Überraschung von Theater, das glücklicherweise dem schönen Grundgesetz der Unberechenbarkeit gehorcht.

Sollte sich ein weiterer Sponsor für die schon jetzt unentbehrlich erscheinenden Autorentheatertage am Thalia Theater finden – die Hamburger Kulturstiftung stellte eine Anschubfinanzierung von 150.000 Mark bereit, wird aber nur mehr einen Bruchteil der Summe für 2002 gewähren können –, gäbe es im nächsten Juli dann hoffentlich auch interessante Texte von Männern – im Dialog mit den neuen pointenscharfen Dramatikerinnen.