Globale Bikiniboutique

Zu einem perfekten Sommer gehört ein Soundtrack mit viel Sonne, Meer und Abenteuer. Doch je realer und voller die Traumstrände wurden, desto weniger verlangte es die Bundesbürger nach deutschen Sommerhits. Ein Nachruf

von RAINER MORITZ

Schlager erzählen mit Vorliebe von Dingen, die nicht mit Händen zu greifen sind, von vagen Sehnsüchten und Begehrlichkeiten. Sie machen Appetit auf das, was der eintönige Alltag nicht ohne Weiteres bereitzustellen gedenkt – oder subtiler, mit Theodor W. Adorno ausgedrückt: „Sie beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle überhaupt, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal ihnen sagt, sie müssten sie haben.“

Von großer Liebe zum Beispiel berichtet der Schlager gerne, von starken Emotionen. Ungeachtet der steigenden Scheidungsraten hält er an unverbrüchlicher Treue fest und lässt sich nicht von den Schwankungen eines Heute-so-morgen-so verrückt machen. Oder von Orten, die anmutiger daherkommen als das Shoppinghaus in Heilbronn oder die Fußgängerzone von Reutlingen, von Orten, die nicht mit irdischen Maßstäben zu messen sind und dem Werktätigen das Gefühl vermitteln, es lasse sich zumindest zeitweise aushalten im Hier und Jetzt. Der Schlager schlägt Brücken in ein (meist nicht näher bestimmtes) Anderswo. Er grundiert die Ursehnsucht des Menschen und offeriert Hochglanzprospekte von dem, was die trivialen Mythen des Schönen und Reizvollen ausmacht.

Wo das Alltags- und Berufsleben von Mühsal bestimmt ist, von einförmigen Gelderwerbsmechanismen und, wie man früher sagte, entfremdeter Arbeit, gewinnen jene Wochen des Jahres besondere Bedeutung, in denen die schnöden Anforderungen des zu steigernden Bruttosozialprodukts außer Kraft geraten. Urlaub, Ferien, Sommer – das sind die Zaubervokabeln einer Entgrenzung, die für viele zum Fixpunkt ihrer Lebensplanung wird. Der Schlager weiß um diese Schwächen der Massen, schildert die Fluchtoasen der Lohnabhängigen in bunten Farben und liefert so den Background einer auf Teufel komm raus unbeschwerten Reisezeit.

So entstand der „Sommerhit“, eine nicht exakt abzugrenzende Untergattung des Schlagers, so entstanden jene Melodien, die den Taumel ausschweifender Ferienfreuden kräftig befeuern und in ihrer fröhlichen Schlichtheit oft zu den besonders erschütternden Zeugnissen deutschen Gesangsguts zählen. Obschon der Schlager generell vor Trauer und Leid nicht zurückschreckt und auch mal jähen Unfalltod (wie in Monica Morells „Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an“) und letalen Drogenkonsum (Juliane Werding mit „Am Tag, als Conny Kramer starb“) verhandelt, bevorzugt er unbegründete Heiterkeit und gebiert Figuren wie Tony Marshall oder Roberto Blanco, die so im grausamen Beruf des „Stimmungs- und Fröhlichmachers“ ein Auskommen finden.

Im Sommerschlager potenziert sich die forcierte Aufforderung zur Lebenslust. Wer das ganze Jahr sein Augenmerk auf sonnen- und alkoholgetränkte Pauschalurlaubswochen richtet, hat ein Anrecht auf ungetrübtes Glück. Selbst wenn der Strand öl-, die Toiletten kotverschmiert sind, es am Service hapert und der versprochene Meerblick nur mit Fernrohr zu erhaschen ist. Der Urlauber feiert sich selbst, weil er andernfalls gar nichts zu feiern hätte, und genau dieses Bedürfnis bedient der Sommerhit.

Wie alle Kunstformen unterliegt auch der Sommerhit den nicht immer leicht zu ergründenden Gesetzen des ästhetischen und sozialen Wandels. Von herrlichen Momenten beschwingter Lebenslaune, in denen süße Männer am Sonntag mit Frauen segeln wollen, sang der Schlager schon in den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Die Funktion des Trostspenders erfüllte er jedoch nachdrücklich in den tristen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Musterbeispiel der fernwehkranken Sommerlieder wurde 1946 Rudi Schurickes „Caprifischer“, ein textarmes Stück, das heute über eine eigene Homepage (www.capri-fischer.de) verfügt und damals dem gebeutelten Nachkriegsdeutschen das perfekte Klischee einer sonnengetränkten Italienidylle bot.

Verträumte und exotische Schauplätze bevölkerten den Nachkriegsschlager zuhauf. In Maratonga, Napoli, Soerabaya oder im gänzlich fiktiven Adano siedelten die Schlagermacher ihre Helden an, wohl wissend, dass der arbeitsame deutsche Mensch vor seinem Radio kaum beurteilen konnte, wo Realität beschrieben, wo Illusion heraufbeschworen wurde. Der Sommerhit jener frühen bundesrepublikanischen Jahre musste sich nur selten an Erfahrungen aus erster Hand messen lassen; er durfte nach Lust und Laune einen Locus amoenus (stereotyper, idyllischer Ort der Liebe und des Gesanges; typisch für so genannte Schäferdichtung – d. Red.) weichzeichnen, der vor allem mit Sonne, Meer, Wein und aparten Frauen ausgestattet wurde.

So vehement Lolita, Caterina Valente, René Carol oder Connie Francis die verschiedenen und sich doch so ähnelnden Spielarten des „Paradiso“ beschrieben, so beharrlich behaupteten sich daneben auch Schlager, die stärker auf das bescheidene „Glück im Winkel“, auf die kleinen Freuden des noch nicht vom Wirtschaftswunder beschenkten Bundesbürgers setzten. Die kleine Cornelia (Froboess) besang 1950 in „Pack die Badehose ein“ das vergleichsweise preiswerte Wannseestrandbadvergnügen mit Schwesterlein.

Auch das aufkommende Verlangen, südlichen Gefilden zeltend (später: campend) näher zu kommen, fand seinen Niederschlag im populären Liedgut. Margret Fürer und dem Dentler Terzett verdanken wir mit „Camping“ die heitere Schilderung der Katastrophen, die selbst ein perfekt geplanter Urlaub dieser Art bereithält. Renate und Werner Leismann, das beschwingte Geschwisterpaar, thematisierte den wirtschaftlichen Aufschwung in „Ein Häuschen auf zwei Rädern“ markant und in holperigen Versen: „Wir haben gezeltet in freier Natur / Mit Schlafsack und der Gitarre nur / Wir sind gewandert im Pfadfinderspiel / Es war ein herrliches Gefühl / Doch in unserer Zeit lebt man motorisiert / Drum haben wir jetzt mal was Neues ausprobiert / Und haben plötzlich mit Freude entdeckt / Wieviel Romantik darin steckt / Ein Häuschen auf zwei Rädern / Ist unser fahrendes Zuhaus / Wir sind die Zigeuner von heute / Und ziehen in die Welt hinaus.“

Das nun im Wohnwagen domestizierte Entdeckertum kommt ohne Romantik, das Opium der Alltagsentrückung, nicht aus, und so überrascht es nicht, dass gerade das „fahrende Volk“ der Zigeuner mit nostalgischem Gestus gefeiert wird. Überhaupt: Anders als im richtigen Leben erfreuen sich die Zigeuner im Schlager großer Beliebtheit. Ihr Nicht-gebunden-Sein an einen Ort, ihre leicht zu verklärende Freiheit taugen zum Gegenbild einer normierten Gesellschaftsform, in der das Festgefügte dominiert. Alexandras „Zigeunerjunge“ gehört in die Ahnengalerie dieser Schlagermotive, und selbst Jürgen Drews, eine der größten Provokationen, seit es Schlagersänger gibt, greift in einem seiner nicht gänzlich vergessenen Lieder in diese Metaphernkiste: „Barfuß durch den Sommer / Wie ein Zigeuner mit dir / Barfuß durch den Sommer / Und die Sonne sehn frühmorgens um vier.“

Das Zigeunermotiv im deutschen Schlager – künftige Dissertationen werden herausarbeiten, dass es in diesen Bildfolgen darum geht, den Traum vom nicht fixierten Leben konkret werden zu lassen. Je freier, je ungebundener diese Vorstellung auftritt, desto leichter ist sie glaubhaft zu machen. Sommerhits singen deshalb höchst selten von unschönen Dingen wie Überbuchung, Fluglotsenstreik, Fischvergiftung oder Wasserverschmutzung. Losgelöster als im Schlager erscheint der Mensch selten; als Zelter, Camper, Wohnwagenbesitzer oder Bergvagabund driftet er ins Unbeschwerte ab. Die Utopie der besseren Gesellschaft mündiger Bürger findet sich hier unverstellt, und so betonen Sommerschlager, die ja eigentlich von der Leichtigkeit des Seins künden sollen, doch auch eine Realität, die in den drei oder vier Minuten ihrer Spieldauer eigentlich gar nicht vorkommen soll. „Wenn die Sonne so richtig knallt / Die Hitze glüht auf dem Asphalt / Hab’ ich gar keine Lust / Mit Arbeit die Zeit zu vergeuden“, heißt es 1977 bei Jürgen Drews, der mit der Formel „mit Arbeit die Zeit vergeuden“ skandalöserweise den Arbeitswillen des einfachen Mannes unterminierte und so zu einem Propagandisten der später von Helmut Kohl so heftig gegeißelten „Freizeitgesellschaft“ wurde.

Peter Rubins Aufbruchslied „Wir zwei fahren irgendwo hin“ bekräftigt diesen volkswirtschaftlich so schädlichen Wunsch nicht minder deutlich: „Ich lass die Arbeit Arbeit sein / Und pfeif auf den Gewinn / Wir zwei fahren irgendwo hin.“ Und auch die edle Griechin Nana Mouskouri weiß, obschon sie privilegierterweise aus einem Sehnsuchtsland stammt, um die eigentümlichen Kräfte, die der Sommer weckt. Ihr „Weil der Sommer ein Winter war“ erfreut mit kühnen Bildern („... träumt man von Urlaub das ganze Jahr / Von Stränden so weiß und von Wassern so blau / Und von Kindern / die die Farbe haben von Kakao“) und ersehnt das „Sonnenland“, wo das Selbstverständliche nicht mehr gilt, „wo die Uhr andre Zeiten schlägt“.

Wo so viele Reize walten, bleiben die Skeptiker in der Minderzahl. Gewiss, es gab Schlager, die die Freude des Zuhausebleibens, den Segen des Schrebergartens rühmten, und es gab auch hellsichtige Texter, die erahnten, dass die Kirschen in Nachbars Garten nur deshalb süß erscheinen, weil sie nicht auf dem eigenen Grundstück wachsen. Paul Kuhns „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ gehört zu diesen wenigen Klassikern des Skeptizismus und zeugt von einem Realismus, der erkennt, dass auch Urlaubsregionen oft markante Defizite aufweisen und deshalb ein Verweilen in der Heimat anzuraten sei. Das sind, wie gesagt, löbliche Ausnahmen. In der Regel genügt das Stichwort „Sommer“, um einen Schwall freudiger Assoziationen auszulösen. Deren genaue Inhalte sind zweitrangig. „Ich will den Sommer“ forderte Veronika Fischer knapp und verstand darunter gewiss nicht jene triste Gemütsverfassung, unter der Wolfgang Petry litt: „Sommer in der Stadt / Ich hab es so satt / Gibt’s nicht irgendwo in dem Riesenhäusermeer / Das Mädchen, dessen Freund ich gerne wär?“

Der Sommer verheißt per se Gutes. Manchmal, wie in Rudi Carrells „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“, lässt sich sogar sein Ausbleiben zu einem Kassenschlager machen. Es bedarf kaum komplizierter Ausschmückungen, um das Faszinosum dieser Jahreszeit auszudrücken. Der „Heiße Sommer“ allein (so der berühmte DDR-Schlagerfilm mit Chris Doerk und Frank Schöbel) öffnet dem Aufregenden Tür und Tor. „Die Sonne brannte so, als hätte sie’s gewusst“, deklamiert Peter Maffay in seinem glanzvollen Appell, sich als junger Mann auch reiferen Frauen anzuvertrauen. „Und es war Sommer“, die Freizügigkeit dieses Initiationssongs benötigt kaum Legitimation. Der lapidare Hinweis auf die außergewöhnliche Saison, auf die stechende Augusthitze genügt, die Verführung eines Minderjährigen als geradezu nahe liegend erscheinen zu lassen.

Überhaupt: die Sinnlichkeit! In Sommerhits, das gehört offenkundig zu den omnipräsenten Vorstellungen von Sinneslust, wird pausenlos getrunken, gesungen, getanzt und geflirtet, mitunter sogar mehr. Jürgen Drews’ „Ein Bett im Kornfeld“ tat so, als sei es Menschen ein evidentes Bedürfnis, sich im Freien, genauer: im piksenden, ameisenangereicherten Gras zu paaren, und Roland Kaiser ließ sich im sommerlichen Eifer sogar dazu treiben, die Entjungferung unschuldiger einheimischer Mädchen zu besingen. „Santa Maria“ heißt der Ort des Geschehens passenderweise, eine „Insel, die aus Träumen geboren“ ist und deshalb die Lizenz zu allerlei gibt: „Ich hab meine Sinne verloren / In dem Fieber, das wie Feuer brennt“. Nur der dumpfe Chorgesang im Hintergrund weist mit seinem unheilvollen „Umbaba umbada“ darauf hin, dass der eben vollzogene Schritt „vom Mädchen bis zur Frau“ vielleicht unliebsame Folgen nach sich ziehen könnte.

Je weiter sich der bundesrepublikanische Mensch von den kargen Nachkriegszeiten entfernte, desto häufiger gelang es ihm, die (Schlager-)Träume von entrückten Urlaubszielen Wirklichkeit werden zu lassen. Man bereiste nicht mehr allein Harz und Allgäu, sondern schickte sich – Neckermann macht’s möglich – an, nach und nach jene Landstriche zu erobern, deren Namen man Jahre zuvor nicht einmal kannte. Mittelmeerländer wie Italien, Spanien oder Griechenland wurden viel bereist, und Mallorca, Gomera, Fuerteventura und Ibiza erwiesen sich als die Inseln der rasch zu realisierenden Wünsche. Davon blieben auch die Sommerhits nicht verschont. Sie mussten sich fortan an den konkreten Erinnerungen der Heimkehrer messen und dienten als „akustisches Pendant zu den Urlaubsdias“ (Günter Helmes).

Gut bekommen ist diese Entwicklung dem Schlager nicht. Was in den Siebzigern und frühen Achtzigern wochenlang in den Radiostationen und Strandbars gespielt wurde, beschränkte sich auf das Allergängigste, eingebettet in Rhythmen, die auch nach reichlichem Genuss hochprozentiger Getränke mühelos nachzuträllern waren. Die Israelin Hanna Aroni jubilierte 1972 unentwegt „Eviva España“, als gelte es, das faktische Treiben mit einem Schlager zu bekräftigen: „Ja, nach Spanien reisen viele Europäer / Nur wegen Sonne und Wasser und Wein / Die Sonne scheint bei Tag und Nacht / Eviva España / Der Himmel weiß, wie sie das macht / Eviva España / Die Gläser, die sind voller Wein / Eviva España. / Und bist du selber einmal dort / willst du nie wieder fort.“ Nicht minder plakativ kam die Niederländerin Imca Marina einher und versorgte die Italienjünger mit passenden Werbeslogans: „Blauer Himmel, weiße Wolken / Schwarze Augen, roter Wein / Bella Italia / Immer wieder klingen Lieder / Durch die Nacht im Mondenschein / Bella Italia / Beim Chianti geht’s avanti / Da ist keiner lang allein / Bella Italia.“

Nachzügler wie Ibo besangen schließlich „Ibiza“ (von den zahl- und witzlosen Mallorcabedichtungen ganz zu schweigen) und konnten es sich, nach neuerlich gestiegenem Wohlstand, nun sogar leisten, den Dauerwohnsitz im Ferienmekka zu propagieren: „Ja, ich bin gut drauf und trink roten Sekt / Weiß erst jetzt, wie gut Paella schmeckt.“ Der Sommerhit deutscher Zunge war damit an sein Ende gekommen. Die Globalisierung machte auch vor dem Musikgeschmack nicht Halt. Je mobiler sich die Urlaubsgesellschaft gab, desto konsequenter bediente die Plattenindustrie das Bedürfnis nach flächenübergreifender Bespaßung. Eindeutschungen wie Tony Holidays „Tanze Samba mit mir“ waren bald nicht mehr notwendig; der Sommerhit wurde nach internationalen Standards produziert und bediente die herrschenden Softpop-Erwartungen. „Sun of Jamaica“, „Vamos a la playa“, „Macarena“, „Lemon Tree“ oder „Mambo No. 5“, das waren verkaufsträchtige Sommerhits der letzten zwanzig Jahre, und der sich ohnehin in Todeskämpfen windende deutsche Schlager hatte zu dieser Entwicklung kaum etwas beizusteuern.

Der Charme von Urgetümen wie „Er hat ein knallrotes Gummiboot“ oder „Azzurro“ gehört der Vergangenheit an. Was nicht ausgelöscht wurde, ist das unverwüstliche Bedürfnis des Menschen, sich seinen Urlaub mit fetzig-zündenden Rhythmen zu garnieren, oder in den zeitgemäßen Worten der Frauenzeitschrift Amica: „Diese Jahreszeit braucht einen Soundtrack, der aus Strandbars, Cabrios und Bikiniboutiquen schallt.“ Dem ist wohl so; mit den Erzeugnissen von Claudia Jung, Gaby Albrecht oder Michelle scheint dieses Verlangen nicht mehr gestillt werden zu können. Die „Sommermelodie“ (Cindy & Bert) ist längst ein globales Konzept.

RAINER MORITZ, Jahrgang 1958, ist Leiter des Hoffmann und Campe Verlags in Hamburg und Vizepräsident der Marcel Proust Gesellschaft. Von ihm erschien unter anderem „Kleine Philosophie der Passionen: Schlager“ (München 2000, dtv, 128 Seiten, 15,50 Mark). Sein Schlagertipp für besonders schwüle Tage: Elisa Gabbai mit „Winter in Canada“