Arnolphe, der Idiot

Schwerenöter: Beim Theaterfestival in Avignon inszeniert Didier Bezaces die „Schule der Frauen“ und Xavier Durringer ein nebliges Balkanstück

von JÜRGEN BERGER

Der Mann ist allein. Irgendwo oben über den Dächern der Stadt versucht er, die Geschicke in seinem Sinne zu biegen und die 17-jährige Agnès zu seiner Frau zu machen. Dazu hat er genau drei Stunden und etwa dreißig Quadratmeter zur Verfügung. Den beengten Raum muss man sich wie einen Dachgarten vorstellen. Rechts und links ragen die Spitzen von gotischen Kirchtürmen. Mittendrinn thront Arnolphe, der seinen dritten Frühling erleben möchte und zum Rumpelstilzchen wird, weil nichts so kommt, wie er es geplant hat. Pech. Da thront er nun gottgleich über den anderen. Und da hat er auch tatsächlich die junge Agnès mit vier Jahren der Mutter abgekauft und sie zur Idiotin erziehen lassen, auf dass sie eine gefügige Gattin abgebe. Jetzt allerdings ist er selbst der Idiot, da Agnès doch alles lernte, was man so zum Leben braucht.

Arnolphe ist Gott und Hampelmann zugleich. Avignons Arnolphe des diesjährigen Theaterfestivals ist Pierre Arditi. Er spielt Molières Schwerenöter aus der „Schule der Frauen“ und ist im weiten Rund des Papstpalastes Didier Bezaces Trumpf-As. Zweiter Stützpfeiler der Inszenierung ist Agnès Sourdillon, die die junge Agnès spielt und Arditi, dem Urgestein der französischen Schauspielszene, Paroli bietet. Arditi, den man vor allem aus Resnais-, Blier- und Lelouch-Filmen kennt, spielt in der dreistündigen, pausenlosen Inszenierung einen Mann, der wohl ahnt, dass alle mehr wissen als er selbst. Trotzdem windet er sich ins eigene Unglück und will von Agnès in schier masochistischer Lust hören, was offensichtlich ist: dass sie von ihm eher angeekelt ist und sich ein frischer Jüngling bereits erfolgreich an sie rangemacht hat.

Bei Molière funktioniert das als Enthüllungskomödie. Didier Bezace zeigt, dass es nichts mehr zu enthüllen gibt. Der usurpatorische Mitteleuropäer, der über Kontinente und Menschen verfügen will, zappelt am eigenen Angelhaken. Wenn der Arnolphe im Papstpalast zu Avingnon meint, er nehme seine Agnès ins Gebet, spielt Agnès Sourdillon eine 17-Jährige, die dem alten Zausel genau das Kindchen vorspielt, das er in ihr so gerne sehen würde. Gleichzeitig führt sie den Herrn der Schöpfung an der langen Leine spazieren.

Bezace leitet das Pariser Banlieue-Theater in Aubervilliers und hat in Avignon vor zwei Jahren eine hervorragende Inszenierung von Hristo Boytchevs „Le Colonel l’Oiseau“ vorgestellt. Das Stück kam diese Saison in Bonn zur deutschen Erstauffaufführung. Mit Molières „Die Schule der Frauen“ ist ihm jetzt das kleine Kunststück gelungen, auf einer der größten Freilichtbühnen der Welt eine kammerspielartige Intensität herzustellen und einen der ältesten Molière-Schinken als frisches Gericht aufzubereiten. Im Papstpalast ist das nicht selbstverständlich. Zu häufig sieht man hier nur literarisches Rampentheater als Bebilderung des Befunds, dass Frankreichs klassische Theatertexte in den letzten Jahrzehnten nicht wie deutsche Klassiker durch die Mühlen eines Regie-, Dekonstruktions- und Poptheaters gingen. Entsprechend altväterlich wirken französische Klassikerinszenierungen nicht selten. Bezace dagegen zählt wie Stéphane Braunschweig – er leitet seit dieser Saison das Straßburger Nationaltheater – zu den Regisseuren, die das französische Theater weg vom pathetischen Literaturtheater führten.

Gleichzeitig macht seit einigen Jahren eine Reihe jüngerer Autoren und Regisseure auf sich aufmerksam, die sich als „Créateurs“ begreifen und ihre Stücke nicht nur schreiben, sondern auch selbst auf die Bühne bringen. Zu ihnen zählt Xavier Durringer, der derzeit auch von deutschen Theatern entdeckt wird. Sein neuestes Stück nennt sich „La Promise“ und ist nach der „Schule der Frauen“ die zweite wichtige Premiere zum Start des Festivals. Wie schon vor drei Jahren, als Durringer mit seinem Banlieue-Stück „Surfeurs“ in Avignon vertreten war, hat der 38-Jährige auch jetzt selbst inszeniert. Und wie vor drei Jahren wird vor allem deutlich: Durringer, der die Compagnie La Lazarde in La Rochelle leitet, wäre besser beraten, überließe er die Inszenierung seiner eigenen Stücke anderen Regisseuren.

„La Promise“ ist der Versuch, sich dem Balkankonflikt fiktional nähern. Das Festival in Avignon war in den letzten Jahren immer wieder eine Plattform für semidokumentarische Auseinandersetzungen mit Bürgerkrieg und Genozid. Durringer geht einen Schritt weiter und lässt den Balkankrieger Zeck zu seiner Lucia zurückkehren. Sie ist „La Promise“, die ihm Versprochene. In seiner Abwesenheit war allerdings schon ein anderer da – Ibrim, der Feind, dem Zeck allerdings bereits den Kopf abgeschlagen hat. Den Kopf bringt er als Morgengabe mit zur Künftigen, nicht wissend, dass er ihr damit das Angesicht des Vergewaltigers und Vaters ihres werdenden Kindes präsentiert. Schon im Text spickt Durringer seine Balkangeschichte mit Privatmythologien. Als Regisseur setzt er noch eins drauf und macht aus der Lucia eine wahre Madonna, während der Vergewaltiger als Geist auftaucht und wie Jesus wirkt.

Man darf gespannt sein, ob auch „La Promise“ seinen Weg ins deutsche Theater findet und sich Durringers privatmythologische Nebel dort eventuell lichtet. Den Weg nach Avignon hat unter anderem auch Marius von Mayenburgs „ Feuergesicht“ gefunden. Eingeladen wurde allerdings nicht eine der deutschsprachigen Inszenierungen, sondern die des litauischen Regisseurs Oskaras Korsunovas. Davon demnächst mehr.