Werde wilder, wilder Füller

Lesen lernen mit Gertrude Stein: 1942, mitten im Krieg, schrieb die Mutter der Avantgarde eine Kinderfibel. Nun ist dieser „First Reader“ zweisprachig auf Englisch und Deutsch erschienen

von FLORIAN VETSCH

Bevor deutsche Truppen Paris besetzten, hatten Gertrude Stein und ihre Lebensgefährtin Alice B. Toklas 1939 ihre Wohnung an der Rue Christine 5 stillgelegt. Dieses Apartment hatte vor kurzem den legendären Stein-Salon an der Rue de Fleurus 27 abgelöst. Gertrude und Alice zogen sich nach Bilignin zurück, wo sie schon seit langem die Sommerfrische zu verbringen pflegten.

Im Zeichen der Nazi-Besatzung waren die beiden als exilamerikanisches jüdisches Lesbenpaar dreifach gefährdet. Bekannt ist, dass einer der Gestapo-Männer, die im August 1944 in das stillgelegte Apartment eindrangen, eine Fotografie von Gertrude Stein durch die Luft schwenkte und rief, die würden sie schon noch kriegen; die Deutschen stahlen einige Wertsachen und zerstörten mancherlei, doch wurde die Wohnung auf Intervention des einflussreichen Stein-Freundes Bernard Fa versiegelt, sodass die wertvollen Bilder aus Gertrude Steins Besitz, Originale von Braque, Picasso, Gris, Miró, Picabia, Matisse, nicht konfisziert werden konnten.

Über die ambivalente Beziehung von Gertrude Stein zu dem Faschisten Bernard Fa, der ihren erzähltheoretisch revolutionären Monumentalroman „The Making of Americans“ übersetzt und ihr experimentelles Werk früh in vielen Artikeln verteidigt hatte, arbeitete hierzulande vor allem Klaus Theweleit in „Orpheus am Machtpol“ („Buch der Könige“, Bd. 2 x). Doch obschon die Beziehung zu Fa, dem Intimus der Pétain-Regierung, Gertrude und Alice relativ schützte, mussten sie sich als französische Bäuerinnen tarnen und auf dem Land verstecken. Zuerst in Bilignin, später dann in Culoz, bis zur Befreiung 1944.

Die Kriegsjahre aber gehörten zu den produktivsten Schaffensphasen im Leben der zwar gealterten, jedoch ungebrochenen Avantgardistin Gertrude Stein. In der Stille der abgelegenen Landschaften schrieb sie nicht nur das autobiografische Buch „Kriege die ich gesehen habe“ und die Romane „Ida“ sowie „Frau Reinelt“, sondern auch „The First Reader“, ein Lesebuch für Kinder, das aber erst postum erscheinen sollte.

Mit „Die Welt ist rund“ hatte die Stein bereits 1939 ein Kinderbuch publiziert; damals hatte sie, im Unterschied zu ihrem Exzögling Hemingway etwa, einen Auftrag vom New Yorker Verlag Young Scott Books angenommen und die Geschichte der Rose, die auf einen Berg steigt, geschrieben – auftragsgemäß als Literatur für Kinder. In Bilignin setzte sie sich 1942 an ein zweites Kinderbuch, an eine Fibel mit literarischem Anspruch. Kein Buch also im „Geldstil“, worunter sie ihr autobiografisches Schreiben subsumierte, das sie seit der „Autobiographie von Alice B. Toklas“ (1932) weltberühmt gemacht hatte. Sondern ein Buch, dessen Texte einer modernen Eigengesetzlichkeit folgen, die nicht zuletzt auf den experimentellen Umgang der Dichterin mit Sprachmaterial an und für sich zurückgeht.

Gertrude Stein, die „Mutter der Avantgarde“, produzierte früh, seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, eine Ästhetik der Abweichung, der semantischen Subversion, der Dekonstruktion tradierter Strukturen. Etwa durch nicht inhaltlich orientierte Lautmalerei, durch Provokation des Absurden, Evokation von Subtexten oder Perversion formal vorgegebener Elemente. Zu den Elementen eines jeden Leselernbuchs gehören benamste Alltagsgegenstände, Reihen mit Wörtern, die mit demselben Buchstaben beginnen oder ihn enthalten, Reime, Lieder oder erste einfache Geschichten. Diesen Elementen begegnen wir auch in Gertrude Steins „First Reader“, nur nicht didaktisiert. Der frische Wind, der noch heute durch ihre Fibel weht, verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass das Buch aller organisierten Didaktik spottet, denn Didaktisierungen eines Stoffs stufte Gertrude Stein als Mord an der Fülle des Lebens ein, zu der für sie auch Bücher zählten.

So scheint bereits darin, dass ausgerechnet sie einen „First Reader“ schrieb, eine augenzwinkernde Ironie auf. Und man kann sich, da dem Buch die Entbehrungen, unter denen es entstand, nicht anzumerken sind, gut vorstellen, welche Erleichterung es für die Autorin bedeutete, mit diesem Kinderbuch sozusagen in eine kriegsfreie Zone einzutauchen. Zudem erholte sie sich während seiner Niederschrift von den umfangreicheren Schreibarbeiten; jedenfalls überließ sie sich sicher willig dem Sog, den ihr Füller von Lektion zu Lektion des Lehrbuchs entfaltete.

Vom „wild pen“ ist denn auch in Lektion 19 die Rede: „Ein wilder Füller ist ein Füller der kleckst der fleckt der dreckt. / Das ist was ein wilder Füller ist. / Und ein wilder Füller ist ein Füller der wilder und wilder werden kann und wenn er wilder und wilder wird wird er wirklich wilder und wilder“. Gertrude Steins Wildheit beim Umstürzen überkommener Schreibgewohnheiten inspirierte Picasso 1906 dazu, ihr Gesicht auf seinem berühmten Ölporträt dem Primitivismus afrikanischer Masken anzugleichen. Wer umstürzt, legt den Grund frei, auf dem Neues entstehen kann, und so nutzte Gertrude Stein ihre Einführung in die Basics des Lesens, ins Begehen der Felder von „Weiß Und Schwarz“, zur Fabrikation eines kunterbunten Lesestraußes.

Ein weiteres wesentliches Element für das Lesenlernen ist die Wiederholung. Und da die Wiederholung als Variation, Modulation, Reihung, angedeutete Endlosschlaufe zu Steins bevorzugten Stilmitteln gehört, wurde „The First Reader“ ein wunderbares Gertrude-Stein-Buch, ein Dokument ihrer immer noch frischen literarischen Minimal-Art, verwandt beispielsweise den Prosapoemen aus „Zarte Knöpfe“ oder den Gedichten aus „Spinnwebzeit“. Mit Gertrude Stein lesen zu lernen ist eine herzerweiternde Übung. Ulrike Draesners Übersetzung vertieft den Lesegenuss. Mit ihrem sprachschöpferischen Ansatz der „Radikalübersetzung“, den sie bereits bei ihrer Übertragung von Shakespeare-Sonetten praktizierte, wird sie Gertrude Steins Sprachexperiment gerecht, wenn sie sich, wie die Stein, oft weniger am Wortsinn als an der Sprache selbst orientiert.

Gertrude Stein: „The First Reader“. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Draesner. Zweisprachige Ausgabe. Ritter Verlag, Klagenfurt/Wien 2001, 125 Seiten, 39 DM