Was zu beweisen wäre

Reza Norouzi schwamm früher für die iranische Nationalmannschaft. Seit sechs Jahren kreist sein ganzes Leben um ein einziges Thema: Asyl

von HEIKE DIERBACH

Sekunden. Länger braucht Reza Norouzi nicht von einem Ende der Bahn zum anderen. Aber das Tempo heute, das ist gar nichts für ihn: „Früher, da hab ich hundert Meter Kraul in einer Minute und elf Sekunden geschafft.“ Von Sekunden hing sein Leben ab, als er noch Schwimmer in der iranischen Nationalmannschaft war. Sekunden waren es, die sein Leben retteten, als die iranischen Revolutionswächter vor sechs Jahren sein Elternhaus stürmten. Sein Geliebter brauchte Sekunden zu lange. Heute ist er tot. Und Reza Norouzi ein abgelehnter Asylbewerber, der nach Auffassung deutscher Gerichte als Schwuler im Iran in Frieden leben kann.

Noch eine Bahn Delphin. Formvollendet bis in die kleinen Finger. Dann hat Norouzi für heute genug vom Foto-Shooting: Er hält sich die Nase zu und verschwindet unter der Wasseroberfläche. Die Fotografin runzelt die Stirn: „Wo ist er denn geblieben?“

Das Freibad, in dem der 30-Jährige jetzt prustend wieder aus dem Wasser schießt, darf keinen Namen haben und keine Adresse. Denn Norouzi darf sich in Deutschland nicht aufhalten. Er klettert aus dem Becken, setzt sich auf sein Handtuch und erzählt seine Geschichte. Eine schöne Geschichte, von zwei jungen Männern, die sich ineinander verlieben. 1992, in Teheran. Reza Norouzi und Hassan Teherani wohnen im selben noblen Viertel, sie kennen sich, seit sie Kinder waren. Die beiden treffen sich heimlich bei Reza, während die Eltern bei der Arbeit sind. Reza nimmt Hassan auch mit in seinen Schwimmklub – einer der wenigen Orte in Teheran, wo Männer sich fast nackt treffen können. „Schauen und genießen“, lächelt Norouzi und weist auf die Liegewiese: „So wie die Jugendlichen hier auch, oder?“ Drei Jahre sind die beiden ein Paar. Niemand darf davon wissen, nicht nur, weil Reza sich damals noch schämt. Auf Homosexualität steht nach iranischem Recht die Todesstrafe. Aber die Revolutionswächter schöpfen dennoch Verdacht, als sie die beiden täglich zusammen auf Rezas Motorrad sehen, kontrollieren sie und fragen: „Was wollt ihr heute machen? Warum seid ihr immer zusammen?“ Den beiden fällt immer eine Ausrede ein.

Komm, weg hier!

Norouzi erzählt und erzählt. Längst hat die Sonne die schwarz-rote Badehose getrocknet, als er endlich zögernd berichtet von jenem Nachmittag im August 1995, einem heißen Donnerstag. Reza ist gerade von seiner Arbeit in einer großen Bank nach Hause gekommen. Er und Hassan wollen sich im Wohnzimmer einen schwulen Pornofilm ansehen. „Ich bin gerade auf dem Weg zum Fernseher“ – Norouzi springt vom Handtuch auf und spielt die Szene nach – „als ich durchs Fenster Schatten auf unserer Mauer sehe.“ Die Revolutionswächter. „Komm, weg hier!“, ruft Reza seinem Freund noch zu. Dann rennt er durch die Hintertür. Hassan schaltet zu spät. Von seinem Vater erfährt Norouzi später, dass sein Freund verhaftet, gefoltert und wegen Homosexualität zum Tode verurteilt wurde. Er selbst kann über die Türkei nach Deutschland fliehen und beantragt Asyl.

Beweisen kann Norouzi nicht, dass sich diese Szene in seinem Elternhaus wirklich zugetragen hat: Seine Zeugen sind alle im Iran. Bei der Asyl-Anhörung in Chemnitz kann sich Norouzi nur mit seinem Rettungsschwimmerpass ausweisen. Der Einzelentscheider ist skeptisch, dass er überhaupt homosexuell ist. Ob ein Arzt das feststellen könne? Das weiß der Iraner nicht. Ob er in Deutschland auch schon homosexuelle Kontakte gehabt habe? Norouzi lacht: „Da war ich gerade eine Woche hier.“

Sein Antrag wird abgelehnt: „Es liegt der Verdacht nahe“, steht im Ablehnungsbescheid, „dass ganz andere Gründe den Antragsteller veranlasst haben, den Iran zu verlassen.“ Denn, wenn niemand in seinem Viertel von seiner Homosexualität wusste, „wie war es dann möglich, dass er dadurch aufgefallen war?“ Außerdem wäre es für die Revolutionswächter doch „naheliegend gewesen, alle Ausgänge des Hauses zu besetzen“. Norouzi zuckt die Schultern: „Das sind doch keine ausgebildeten Polizisten. Das ist nicht wie hier.“ „Hier“ – Norouzi senkt die Stimme und weist in Richtung Springerbecken, „wo eine Frau oben ohne schwimmen kann. Die würde im Iran sofort da oben“ – er zeigt auf den Fünfmetersprungturm – „aufgehängt.“

Norouzi klagt gegen die Ablehnung vor dem Verwaltungsgericht Chemnitz. Dieses glaubt ihm 1999 zwar, dass er homosexuell ist – nicht aber, dass er deshalb im Iran verfolgt wird. Zwar „werden nach dem islamischen Strafgesetzbuch homosexuelle Handlungen mit dem Tode bestraft“, heißt es in der Urteilsbegründung. In der Praxis gebe es jedoch „keine wirkliche Politik der Verfolgung“. Das Gericht beruft sich dabei auf den Bericht einer Delegation der Niederlande von 1998. Das Auswärtige Amt schreibt in seinem Lagebericht vom selben Jahr: „Hinrichtungen (allgemein) werden nach wie vor in beachtlichem Umfang durchgeführt. Die Todesstrafe kann verhängt werden für [...] Homosexualität.“

Inzwischen holt das islamische Regime Norouzi auch in Deutschland ein: Nachdem seine muslimischen Mitbewohner in der Asylbewerberunterkunft Reichenbach (Sachsen) herausbekommen haben, dass er schwul ist, verprügeln sie ihn und schmeißen ihn aus dem Zimmer. Obwohl sie selber von islamischen Regimen verfolgt werden? Norouzi, der heute nicht mehr gläubig ist, lächelt milde: „Der Islam ist ja keine Sache des Kopfes. Sondern hiervon.“ Er legt die Hand auf die Brust.

Bronze, Silber und Gold

Norouzi stellt einen Antrag auf Umverteilung nach Geesthacht in Schleswig-Holstein, wo er mittlerweile einen Freund hat. Hier macht er auch das deutsche Rettungsschwimmabzeichen. „Bronze, Silber und Gold in zwei Tagen“, sagt er und kramt den Ausweis aus der Tasche: Das wenigstens hat er Schwarz auf Weiß. Das Freibad Geesthacht hätte ihn gerne zum Bademeister ausgebildet. Doch der Antrag auf Umverteilung wird trotz Unterhaltsverpflichtung des Freundes abgelehnt – acht Mal. Norouzi schlingt die Arme um die angezogenen Beine: „Nach Sachsen konnte ich doch nicht zurück.“ Er lässt seine letzte Aufenthaltsgestattung im September 2000 ablaufen, verlässt Geesthacht, taucht unter, wird illegal. Die Beziehung zu dem Freund zerbricht.

Seitdem war Norouzi auch nicht mehr im Schwimmbad. „Mir fehlten das Geld und auch die Kraft“, sagt er „dabei war ich letztes Jahr schon wieder auf einer Minute und 21 Sekunden“. Jetzt sei er aus dem Training und auch zu schwer geworden. Er kneift in die kleinen Röllchen an seinem Bauch und lacht: „Die hatte ich früher nicht.“ Aber wenn man als Hochleistungssportler nicht mehr regelmäßig trainiert und auch sonst wenig tun kann? „Sechs Jahre“, sagt Norouzi, „da hätte ich eine Ausbildung machen können.“ Deutsch hat er sich mit einem Wörterbuch und Fernsehsendungen fast perfekt beigebracht. Er zupft die Grashalme neben seinen Füßen aus. Sechs Jahre sei sein Leben immer nur um das eine gekreist: „Asyl. Asyl.“

Der Name des Vaters

Im November 2000 gibt es Grund zu hoffen: Einem Bekannten gelingt es über Umwege, das Original des Haftbefehls aus Norouzis Akte zu beschaffen. Darin wird explizit die „islamwidrige Straftat (homosexueller Geschlechtsverkehr)“ genannt. „Es kann sich nur um eine Fälschung handeln“, kontert das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Das sehe man unter anderem daran, dass auf dem Dokument übliche Angaben wie der Name des Vaters fehlen. Das Asylfolgeverfahren wird abgelehnt. Tatsächlich steht in dem Haftbefehl und auch in der Übersetzung deutlich: „Name des Vaters: Hamid*“. Auch, dass inzwischen mehrere Verwaltungsgerichte – darunter Chemnitz – homosexuelle Iraner anerkannten, beeindruckt das Bundesamt nicht. Norouzis Klage gegen die Ablehnung des Asylfolgeverfahrens ist noch nicht entschieden.

Die Schatten auf dem Wasser werden länger. Sie fangen sich in den ersten Falten auf Norouzis Gesicht. Es sind Lachfalten. Im Haar hat er erste graue Strähnen. Immer wieder stellt er die eine Frage: „Wenn ich im Iran nicht verfolgt worden wäre, warum hätte ich dann fliehen sollen?“ Er hatte einen guten Job, ein großes Haus, seinen Schwimmverein – und einen Menschen, den er geliebt hat.

* Der Name wurde zum Schutz des Vaters, der noch in Teheran lebt, von der Redaktion geändert