„Es ist Musik, die Mädchen anspricht“

Schwarzwald-Grooves: Rainer Trüby ist Platzhirsch im Clubkosmos des NuJazz. Der DJ, Remix-Produzent und Compilation-Editor über das Prinzip Vielfalt, seine Entdeckung der Wurzeln des HipHop auf dem Flohmarkt und sein globales Netzwerk – und über Freiburg als die brasilianischste Stadt Deutschlands

Interview PASCAL CAMES

taz: Herr Trüby, Sie sind als DJ und Remix-Produzent, vor allem aber durch Ihre Compilation-Reihe „Glücklich?“ bekannt geworden. Wie sehen Sie sich selbst: Sind Sie ein Künstler?

Rainer Trüby: Eine schwierige Frage. Ich denke schon, dass Plattenauflegen eine Kunst ist. Aber Kunst ist relativ. Ich würde mich eher als Missionar sehen, weil ich dem Publikum meinen – oder unseren – Musikgeschmack näher bringen will.

Ihre Lieblingsstile sind Brasil und Dancefloor-Jazz. Wann kamen Sie denn zum ersten Mal mit Jazz in Berührung?

Mein Vater hat Louis Armstrong und Dixieland gehört, und ab und zu hat er mich auch zum Dixieland-Jazzfrühstück mitgenommen. Aber beeinflusst hat mich das nicht.

Ihr Berufswunsch war?

Baggerführer. Später wollte ich in das Hotelfach und habe darum in einem Stuttgarter Hotel Leuten wie Prince die Koffer geschleppt.

In Freiburg habe ich Soziologie und Englisch studiert, aber die vielen Hausarbeiten haben mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. 1995 habe ich mich dann entschieden, mein Hobby zum Beruf zu machen.

Und wovon haben Sie bis dahin gelebt – nur vom Auflegen?

Nein. Anfangs habe ich noch Platten vertickt, die ich auf Flohmärkten ausgegraben hatte. Aber Gott sei dank muss ich das nicht mehr machen.

Wie sind Sie zum NuJazz gekommen?

Ich komme eigentlich vom HipHop. Auf einem Flohmarkt in England habe ich dann aber einmal zwei Jungs zugehört, die sich gegenseitig alte Jazz-Funk- und Soul-Platten vorspielten. Da habe ich einen Sample entdeckt, den die Jungle Brothers in einer meiner Lieblingsnummern verwurstet haben. Erst da habe ich wirklich verstanden, wie HipHop funktioniert – dass es eben auf alter Musik basiert, auf Samples. Da habe ich gedacht: Hoppla! Musikalisch sind diese Quellen fast noch spannender.

Und dann ging’s los?

Ja. Ich habe dann angefangen, alles zu kaufen, was alt war: Siebzigerjahre-Funk, Soul, Jazz – eben alles, wo möglichst große Afrofrisuren drauf abgebildet waren, und alles, was möglichst billig war. Nach und nach habe ich mir dann das Wissen über die Musik angeignet.

Im On-U Club in Stuttgart habe ich dann begonnen, mit den Tiefschwarz-Brüdern aufzulegen. Das war dann schon sehr retrolastig: überwiegend alte Sachen, aber auch Veröffentlichungen von neuen Labels wie Talkin’ Loud.

Mit Gilles Peterson, dem DJ und Chef des AcidJazz-Labels Talkin’ Loud, legen Sie heute gelegentlich zusammen auf . . .

Ja, sogar ziemlich oft. Ich spiele dann Talkin’-Loud-Platten und er unsere Platten. Das ist ein guter Austausch: Freundschaft, wenn man so will.

Als ich ihn kennen gelernt habe, war das aber noch ganz anders. Ich war der Kleine aus Deutschland, der immer eine Tasche voll deutscher Jazz-Rock-Fusion-Platten aus den Siebzigern im Gepäck hatte. Ich stand bei Gilles Petersons’ Auftritten immer am DJ-Pult und habe mir alles aufgeschrieben – ich war total wissbegierig.

So bin ich in Kontakt mit ihm gekommen. Er hat mich in sein Büro eingeladen, und ich habe ihm aus meiner Tasche deutsche Jazz-Obskuritäten vorgespielt, die er mir dann für teures Geld abgekauft hat. Dadurch konnte ich mir wieder neue Platten kaufen und meine Sammlung vergrößern. Irgendwann hat er mich gefragt, ob wir nicht gemeinsam eine Platte zusammenstellen wollen. Das Resultat ist auf „Talkin’ Jazz Vol. 3“ zu hören.

Fantum lohnt sich?

Auf jeden Fall!

Sie sind heute in England und Japan bekannt und gelten inzwischen selbst als Global Player. Wie weit erstreckt sich denn das Netzwerk Ihres Compost-Labels?

Es ist ein universelles Netzwerk und reicht vom Kioto Jazz Massiv in Japan, das auch bei Compost ist, bis nach Europa. In Skandinavien gibt es inzwischen eine rege Szene, in Frankreich, Spanien, Portugal, und vor drei Wochen war ich in Moskau, wo sich auch eine Szene gebildet hat: Interessante Elektronik meets Live-Jazz. Selbst in Amerika wird es tendenziell immer besser – die sind recht offen geworden für das, was jetzt aus Europa rüberschwappt.

Ist das, in Tokio oder Berlin, der gleiche Menschenschlag?

Die meisten haben schon eine ähnliche musikalische Sozialisation. Etwa die Jazzanovas in Berlin: Das sind auch Retro-DJs, die zu AcidJazz-Zeiten angefangen und nur alte Platten gespielt haben. Wir haben das HipHop-Ding miterlebt und die gesampelten Beats und haben fast zeitgleich begonnen, mit diesen musikalischen Wurzeln unsere Musik zu machen, die jetztbezogener ist.

Wie sehen Sie die musikalische Entwicklung derzeit?

Im Moment ist die Zeit für Musik sehr gesund, weltweit. Früher existierten die verschiedenen Genres getrennter als heute. Techno, HipHop, House, AcidJazz – diese Szenen kann man sich als Kreise vorstellen, die jetzt immer mehr zusammenkommen und eine Schnittmenge bilden, sie fusionieren. Wir spielen inzwischen auch Platten von House-Produzenten, die wir früher nie angerührt hätten. Und anders herum spielen die auch unsere Platten. Es schließt sich alles zusammen, dadurch entsteht Neues.

Ich glaube, neue Musikstile entstehen nicht einfach so zack-bumm, sondern immer nur aus der Fusion bereits dagewesener Stile, als Hybrid. Das war so bei 2-Step und Drum ’n’ Bass, und das ist so beim NuJazz. Ich benutze den Begriff allerdings nicht so gerne – nur in Anführungszeichen.

Wieso nicht?

Für unser Ding passt er nicht, denn wir sind nicht einfach nur Jazz. Wir schulden der Latin-Musik genauso viel wie der brasilianischen, dem HipHop und House genauso viel wie dem Jazz. Der einzige Begriff, mit dem ich mich anfreunden kann, wäre Fusion.

Das scheint auch das Prinzip Ihrer neuen Formation, des Trüby Trios. Dort arbeiten Sie mit Roland Appel und Christian Prommer zusammen, zwei Schlagzeugern.

Beide haben früher primär Drum ’n’ Bass gemacht, aber sich auch immer für andere Spielarten der Musik interessiert, für Jazz, Fusion, Funk und Soul. Im Endeffekt teilen wir die gleichen Vorlieben: Wir sind Protagonisten des Freestyle.

Vielfalt als Prinzip?

Ja, wir glauben nicht nur an einen Stil. Es gibt einfach zu viel gute Musik, als dass man den ganzen Abend mit einer Beats-per-Minute-Frequenz bestreiten sollte.

Wann waren Sie das letzte Mal auf einem Flohmarkt?

Kürzlich war ich in Villingen-Schwenningen mit der Aussicht, ein paar alte MPS/Saba-Platten zu finden – was aber nicht geklappt hat. Früher hat man mich jede Woche auf einem Flohmarkt und in Second-Hand-Läden angetroffen, das war wie eine Sucht: keine Woche ohne. Inzwischen hat sich das beruhigt. Ich kaufe immer noch gerne alte Platten. Aber der Kitzel war früher größer.

Woran liegt’s?

Es gibt so viel gute neue Musik. Die neue Musik ist soulfuller geworden und, ja, es liegt auch daran, dass ich zu viel unterwegs bin. Inzwischen habe ich aber auch so viele Platten, auf die ich immer wieder zurückkommen kann und auf denen ich noch Neues entdecke.

Was gefällt Ihnen an der Musik als Ganzes, die andere nur als Teil, als Sample mögen?

Dass sie extrem funkig ist, auch homogen, und teils sehr schöne Melodieführung hat. Teilweise leben diese Platten auch vom Fender-Rhodes-Piano. Ich bin ein totaler Fender-Rhodes-Fan: Fender-Rhodes-Solos, Harmonien – Herbie Hancock und Co.

Und was mögen Sie an alter brasilianischer Musik?

Bei den Brasil-Sachen ist es wieder eine andere Sache. Da gefallen mir zum einen eben die Rhythmen: Batucadas, Malacatus oder wie sie alle heißen, und dazu die verschiedenen Instrumente wie Berimbau, Cuica, Sordo und was es da noch alles gibt.

Und dann gefällt mir noch die klassische Art der brasilianischen Songwriter. Die Brasilianer nennen das „Tristeza“ Traurigkeit, die aber auch eine Form der Fröhlichkeit ist. Die kommt in diesen Songs immer zur Geltung.

Etwas Gespaltenes?

Ja, aber es geht auf. Das können aber auch fast nur Brasilianer so machen.

Waren Sie schon mal in Brasilien?

Nein, leider nicht.

Was, glauben Sie, würden man dort zu Ihrem Stil sagen?

Ja, das wäre schon interessant zu wissen, wie man in Brasilien reagieren würde. Allerdings hätte ich schon Bedenken, den zwanzigjährigen Kids dort meine alten Bossa-Nova-Platten um die Ohren zu hauen. Für die ist das die Musik ihrer Eltern oder Großeltern.

Das wäre ja so, als würde jetzt ein brasilianischer DJ nach Deutschland kommen und hier deutsche Volksmusik spielen. Oder Neue Deutsche Welle.

Haben Sie eine Ahnung, warum alter Bossa Nova und Samba die Leute hier so anspricht?

Es ist sehr positive Musik, sehr rhythmische Musik. Tanzbare Musik. Musik, auf die speziell Mädchen ansprechen. Und wenn Mädchen darauf anspringen, sind die Jungs meist auch nicht weit weg davon.

Nirgendwo scheint die Sonne öfter, die Spieler des SC Freiburg gelten als Breisgau-Brasilianer, und Sie haben den Ort auf die Club-Landkarte gesetzt. Was unterscheidet Freiburg von anderen Städten?

Freiburg ist sicher eine der brasilianischsten Städte in Deutschland, rein vom Enthusiasmus der Menschen her betrachtet.

Man kann sicher auch in Hamburg oder Berlin gute Partys haben, das will ich gar nicht abstreiten. Aber ich finde schon, dass es da eine Nord-Süd-Steigerung gibt. Sehen Sie, das ist ein Berliner um drei Uhr morgens in einem Club. Er macht so (Trüby schnippt mehrmals mit seinem Finger gegen sein Bierglas). Wissen Sie, was das heißt?

Keine Ahnung?

Der Berliner rastet total aus. Er hat schon alles gesehen, und jetzt ist er so richtig am Durchdrehen. Wohingegen man sich in Freiburg die Schuhe auszieht und zum Ausdruckstanz pfeift. Irgendwie ist das schön.