Im Wasser geborgen

Zu hoch gesprungen, zu tief getaucht: Bill Broady erzählt in seinem Romandebüt von einem talentierten Leben auf der Kurzstrecke – „Die Schwimmerin“

von ANDREAS MERKEL

Der Schmetterling ist ein Schwimmstil, bei dem es darum geht, mit großer Kraft und aufwendiger Technik immer wieder aus dem Wasser emporzuschnellen, um eine kurze Weile wie im Flug durch die Luft nach vorne zu schießen und dann immer bloß von neuem in das Wasser einzutauchen. Er ist wahrscheinlich die uneffektivste Art, sich im Wasser fortzubewegen – beherrscht man sie nicht vollkommen, sieht es bloß lächerlich aus. Aber wenn sie einem gelingt, wohnt der Bewegung etwas Schwereloses inne. So gesehen könnte man sagen, dass Schmetterlingsschwimmen die reine Transzendenz ist. Und dass Bill Broady diesen Stil zumindest literarisch gemeistert hat.

In seinem Romandebüt „Schwimmerin“ erzählt der 1955 geborene Engländer die Geschichte eines außergewöhnlichen Schwimmtalents. Das Mädchen, das namenlos bleibt, weil Broady es konsequent in der zweiten Person direkt anspricht, begeistert sich von klein auf für zwei Dinge: Schmetterlinge und Wasser. Das heißt: „Es war nicht eigentlich das Wasser, das du so mochtest, sondern eher der Schwebezustand, der dir das Gefühl gab zu fliegen – wie als du deinen Geburtstagsdrachen festgehalten hattest, einen chinesischen Dämon mit Tigerfängen, bevor eine Böe auf Primrose Hill ihn dir aus der behandschuhten Hand riß und hinab in die diesige, silberne Stadt wehte.“ Dieses Zitat deutet bereits den eigenartigen Schwebezustand zwischen Fliegen und Verschwinden, zwischen Erfolg und Scheitern an, in dem Broady von dem Talent seiner Schwimmerin erzählt.

Da ist zunächst einmal das Glück, das das Mädchen erfährt, wenn es gleich vom ersten Schwimmcoach nach eingehender Musterung als „Schmetterling“ klassifiziert wird. Sie verlässt das Elternhaus und geht auf ein Sportinternat, wo ihr selbst der härteste Drill nichts auszumachen scheint, solange sie sich nur im Wasser geborgen fühlen kann. Sie bleibt jedoch fremd unter den anderen. Einzig der Coach bleibt ihr als väterliche Bezugsperson, zu dem sie ein so enges Verhältnis hat, dass sie nicht einmal an Vergewaltigung denkt, als sie an ihrem 16. Geburtstag im Vollrausch von ihm entjungfert wird. Dem Coach gelingt es, selbst das noch als sportliche Lektion zu verkaufen: Er habe der Erste sein wollen und nur darauf komme es an.

Wenig später wird die Schwimmerin diesen Rat befolgen. Im alles entscheidenden Rennen hat sie vor Anstrengung und Schmerzen das Gefühl zu „explodieren“. Es ist, als würde sie aus sich selbst herausschwimmen, und sie gewinnt in Rekordzeit. Bis zu diesem Punkt hält Broady das Erzähltempo so hoch, als könnte man das von Kurzstrecken dominierte Leben seiner Protagonistin auch nur im Sprint bewältigen. Nach dem Triumph jedoch folgt mit einer beängstigenden Mischung aus Absichtslosigkeit und Folgerichtigkeit der Absturz, ein großes poetisches Atemholen des Erzählers.

Die Schwimmerin gönnt sich eine Trainingspause; als sie in den Pool zurückkehrt, hat sie das innige Verhältnis zum Wasser verloren. Mit 19 ist ihre Karriere zu Ende, es gibt jüngere und schnellere Konkurrentinnen. Sie sehnt sich nach einem alltäglichen, geregelten Leben unter vielen. Bald muss sie jedoch feststellen, dass ihr Vater, ein Altphilologe, der ihren Teddy einst „Buddenbrook“ nannte, Recht gehabt hat: „Büros sind Konzentrationslager für die Seele.“

Also wird die Schwimmerin dank ihres Aussehens Model und lässt sich von einem Agenten, ihrem „neuen Coach“, vermarkten. Sie geht in Fitnessstudios, um wie früher im Pool bis zur Erschöpfung zu trainieren. Ihre Naivität ist bei alldem so ungebrochen wie ihre Einsamkeit. Als die Modelaufträge immer schäbiger werden und ihr irgendwann nur noch Pornorollen bleiben, begibt sich die Schmetterlingsschwimmerin ein letztes Mal in die große Transzendenz, wie sie sie im Wasser bereits ausprobiert hat. „Deine ersten und letzten Erinnerungen waren an Schmetterlinge . . .“

Es ist dieser durchgehaltene Stil der direkten Anrede, der einen noch lange nach der Lektüre von Bill Broadys schmalem Erstlingswerk verfolgt. Man fragt sich, wer das eigentlich ist, der da in diesem seltsam hohen Ton der Schwimmerin (und uns) ihre Geschichte erzählt: Spricht sie mit sich selbst? Redet ihr Vater, der Altphilologe („In einem deiner wachen Momente in der Schule hattest du gelernt, daß das griechische Wort für Schmetterling Psyche war: Es bedeutete auch Seele.“)? Oder vielleicht sogar Gott, ein ebenso entrückter wie teilnahmsvoller Klugscheißer, ständig zwischen Anklage und allumfassendem Verständnis schwankend . . .?

Am Ende geht einem auf, dass diese Fragen ganz gut die Rolle umschreiben, die man selbst beim Lesen und Schreiben spielt. Und dass man beim Schmetterlingsschwimmen nie zu hoch in die Luft springen darf, weil man sonst anschließend zu tief in das Wasser eintauchen würde. Genau das scheint der Schwimmerin passiert zu sein. Zu hoch gesprungen, zu tief getaucht.

Bill Broady: „Schwimmerin“. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. C. H. Beck, München 2001. 128 Seiten, 29,80 DM