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: Wie Filme die Grenzen der G-8-Politik überschreiten

Ohne Armutskarte

Für ein Filmfestival, das nach dem Willen von Silvio Berlusconi demnächst unter der Ägide der ultrarechten italienischen Fernsehmoderatorin Gabriella Carlucci stattfinden soll, sind symbolische Akte nicht ganz unwichtig. Zum Beispiel eine Veranstaltung, die seit Tagen an erster Stelle auf der Hompage der Biennale angekündigt war. Die 58. Mostra Internationale del Cinema, stand da zu lesen, biete einem Regiekollektiv die Möglichkeit, einen Film über die Ereignisse beim G-8-Gipfel in Genua zu zeigen (der mit den bereits beim Festival von Locarno gezeigten Bildern nicht identisch ist). Irgendwann hieß es, das aus 291 Stunden Videomaterial zusammenmontierte Werk sei noch nicht fertig, die Pressekonferenz wurde trotzdem nicht abgesagt.

Auf dem Podium saßen etwa zwanzig Persönlichkeiten aus der italienischen Filmbranche, und ein junger Mann mit Nickelbrille verteilte unter den Journalisten Flugblätter für die Ratifikation des Kyoto-Abkommens. Gillio Pontecorvo, Regisseur und langjähriger Leiter der Filmbiennale, würdigte den unsichtbaren Film als großen Schritt in der Geschichte des politischen Kampfes in Italien. Es entstehe eine Gegenöffentlichkeit, die sich nicht dem Nachrichtendruck des Fernsehens beuge. Der G-8-Film sei deshalb wichtig, weil er die Polizeistrategie eine Woche lang Schritt für Schritt verfolge, analysiere und „endlich die ganze Wahrheit über jene Tage ans Tageslicht bringt“. Natürlich hat es etwas Paradoxes, wenn jemand bei einer Pressekonferenz vor laufenden TV-Kameras über den Nachrichtenwert von Bildern spricht, die gegen die Nachrichten arbeiten – zumal wenn diese angeblich so anderen Bilder dabei die mediale Leerstelle bleiben. Andererseits ist gegen solche solidarischen Selbstversicherungsaktionen (wir hier, Berlusconi da) nichts einzuwenden, zumal als strategisches Mittel in einem sich abzeichnenden Kulturkampf zwischen Regierung und Festival.

Es gab allerdings auch sichtbare Bilder, die mitten hinein in die symbolische Ordnung des G-8-Gipfels zielten. Bilder über die politische Grenze als einer ganz schlicht pragmatischen Trennungslinie zur Sicherung eines ökonomischen Einflussbereichs. In André Téchinés Film „Loin“ ist der Grenzübergang zwischen Marokko und Spanien ein riesiger Parkplatz, auf dem sich Lastwagen stauen.

Es geht um eine Handvoll Menschen im heutigen Tanger, die sich alle in einer Situation des Übergangs befinden: Farida hat vor kurzem ihre Mutter verloren und überlegt, nach Montreal auszuwandern. Serge, ihr Geliebter, hat sich mit seinem Lastwagen für einen größeren Drogentransport nach Frankreich verpflichtet. Der halbwüchsige Said versucht gerade zum fünften Mal, illegal nach Spanien überzusetzen, während die reiche Emilie nur auf Kurzbesuch in ihrer marokkanischen Heimat ist.

Der Transit wird in Téchinés auf Video gedrehtem Film zum Lebensgefühl von Figuren, die ständig in Bewegung sind und ihre Umgebung in den Bildhintergrund hineinziehen. Bettelnde Kinder, rauchende alte Männer, Straßengetümmel, Verkehr, die Rufe des Muezzins, Polizeikontrollen – in „Loin“ entsteht der Sound eines Landes, in dem europäische und arabische Kultureinflüsse so selbstverständlich miteinander verschmolzen sind, dass der Grenzübergang immer wieder etwas Unwirkliches hat.

Eher beiläufig erfährt man, dass wieder ein Jugendlicher von der Achse des Lasters zerquetscht wurde, unter der er sich versteckt hat. Dabei zieht Téchiné keineswegs die Armutskarte. Im Gegenteil, in seinem Film ist es durchaus legitim, eine Grenze allein deshalb heimlich zu überschreiten, weil sie da ist. KATJA NICODEMUS