Tropfen im stillen Wasser

Schwarze Messen für die Massen: Depeche Mode zitierten zum Tourstart in Berlin ihre alten Posen – und präsentierten sich einem mit ihnen gealterten Publikum als ausgeglichene Wonneproppen

Das Nest, das Depeche Mode an diesem Abend bauen, ist ganz besonders warm

von SUSANNE MESSMER

Der schönste Moment eines Konzerts ist kurz vor Beginn. Gehetzt renne ich Richtung Bühne, wie immer spät dran – die Angst, es könnte schon angefangen haben. Es hat noch nicht angefangen, Gott sei Dank – aber Fad Gadget, der Support dieser Tour, hat schon gespielt. Mist. Dabei war Fad Gadget doch nicht nur der Entdecker von Depeche Mode, die er schon als Schülerband einst in seinem Vorprogramm spielen ließ. Er war auch der König einer halsbrecherischen Bühnenshow, heißt es. Ob er wohl „Ricky’s Hand“ gespielt hat? Ein Kollege erzählt, ich solle mich beruhigen, es sei genau wie vor zwanzig Jahren gewesen. Da durfte ich aber noch nicht zu Konzerten. So ein Mist. Werde ich halt noch einmal zum zweiten Berliner Konzert müssen, in die zur Premiere mit 22.000 Zuschauern restlos ausverkaufte Waldbühne.

Die Bühne wird angeknipst. Die ersten Töne vom neuen Album. Da sind sie wieder und betreten einer nach dem anderen die Bühne. Sie sind wirklich da!

Dave Gahan sieht aus wie immer, nur etwas älter und glücklicher. Genauso Martin Gore. Und Andrew Fletcher steht wie seit je etwas unbeholfen herum, weiß nicht so recht, was er eigentlich tun soll, und drückt aus Verlegenheit ab und zu auf seinem Keyboard herum oder schwenkt strahlend die Arme. Der erste Song, „The Dead Of Night“ ist fast gruftig, mit schnalzenden Beats – der härteste auf ihrem im Mai erschienenen, zwölften Album, das eher durch Understatement glänzt und Songs, die nicht gleich beim ersten Mal kleben bleiben.

Depeche Mode sind eine seltene Spezies, eine der wichtigsten, begehrtesten und zugleich unmodischsten Erscheinungen im Pop-Universum. Wie wenige haben sie es geschafft, sich jenseits vom Mainstream als Massenphänomen zu mausern und es mit einer Beständigkeit zu bleiben, die nur scheinbar ihrer krisengebeutelten Karriere widerspricht, ihren Abstürzen und der permanenten melancholischen Untergangsstimmung, die um sie war. Niemand hätte Anfang der Achtziger gedacht, dass es diese Band in 20 Jahren noch geben würde – dass sie es schaffen, sich vom Image der pubertären Provinzhelden zu lösen.

Wer hätte geglaubt, dass Milchbubi Dave, früher in weißen Jeans und mit hochgekrempelten Ärmeln, mit laszivem Hüftschwung, sich über den waghalsigen Umweg über den wüsten Rockpropheten, den verhärmten Junkie zu dem entwickeln würde, was er heute ist: ein Wonneproppen, ein Mensch mit Lachfältchen, der sich gefangen hat, wieder wohl mit sich fühlt und die seltene Gabe besitzt, sich selbst zu karikieren. Wie er da auf der Bühne rumkaspert: eine Augenweide.

Immer wieder zitiert er sein berühmtes Dave-Dancing, das auf den zahlreichen Depeche-Mode-Partys in Berlin und auf dem Dorf ungebrochen fleißig nachgeahmt wird – und das von einem teilweise doch recht unangenehmen Publikum, wo man schon mal Böhse-Onkelz-T-Shirts und Bomberjacken sieht. Natürlich darf keiner der alten Gassenhauer fehlen: Dave singt selbst „Personal Jesus“ mit einer Inbrunst, als hätte er diesen Stampfsong noch nie gesungen. Noch besser macht sich an diesem Abend aber eigentlich Martin Gore auf der Bühne.

Auch so ein Typ, dessen Songwriting immer besser wird, der aber auch in dem, was er verkörpert, je älter er wird, immer besser wird. Sein schräges Gesicht, sein fliehend gekämmtes Haar und ein Aufsehen erregender, fedriger Glitzerflokati: Er wirkt beinahe wie ein Vogelmensch, ein eleganter Camp, so elegant, so sanft. Erstaunlich viele Lieder singt er und nicht Dave: „Sweetest Condition“ und „Breathe“ vom neuen Album, „Surrender“, ein B-Seiten-Titel, und „Home“ vom letzten Album. Seine Stimme ist dermaßen soulful, man kann sich gut vorstellen, wie sehr er sich manchmal wünscht, schwarz zu sein.

Insgesamt sind die Songs dieses Abends eher danach ausgesucht, dass sie atmosphärisch wabern, dass sich ihre Refrains nur ganz langsam und verhalten herauspellen. Ganz alte Lieder zum Mithüpfen, Gummibärchensongs wie „Just Can’t Get Enough“ fehlen völlig.

Die Bühnenshow passt dazu: Mal kreiseln tiefblaue Rosen auf schwarzem Grund, bei „Waiting For The Night“ fällt ein verlangsamter Tropfen auf eine Wasserfläche. Das Nest, das Depeche Mode an diesem Abend bauen, ist ganz besonders warm: Gefühl statt roher Körperlichkeit, ein Zaubermittel gegen die kalte Welt da draußen. Erst ganz am Schluss kommen zwei Lieder aus den Achtzigern: der alte Heuler „Black Celebration“ von 1986 und „Never Let Me Down Again“ von 1987.

Es ist geschehen. Wir sind alt geworden, werden bei Liedern sentimental, die genauso lange her sind wie früher Elvis’ Tod. „Black Celebration“ ist heute genauso weit weg wie für unsere Eltern damals „Imagine“ von John Lennon.

Weitere Termine: 8. 9. Hamburg, 9. 9. Leipzig, 11. 9. Wien, 29./30. 9. München, 2. 10. Nürnberg, 3. 10. Zürich, 6. 10. Oberhausen., 11. 10. Frankfurt