Das System der Killeroppositionen

Rache und Vergeltung haben in der Geschichte der USA religiöse Tradition. Man kann auch von einer Versüdstaatlichung des Rechtsempfindens und daher als Konsequenz von einer fundamentalistischen Politisierung der Justiz sprechen. Wird dieses Denken im Fall der aktuellen Ereignisse greifen?

Es gibt einen Sieg der christlichen Rechten beim Marsch durch die Institutionen

von BERND OSTENDORF

Der Ruf nach sofortiger Vergeltung für die schrecklichen Untaten islamisch-religiöser Extremisten, der zurzeit in amerikanischen Umfragen, in der politischen Klasse und in den Medien laut wird, wirft die Frage auf, warum dort der Rachegedanke, das lex talionis, so populär ist. Seine Popularität lässt sich am Einfachsten plausibel machen, wenn man die der Todesstrafe miterklärt. Denn unter den westlichen Demokratien halten allein die USA mehrheitlich an der Todesstrafe und am Glauben an seine Wirksamkeit fest. Es lassen sich sechs Gründe bündeln, die die historisch gewachsenen Unterschiede der politischen Kulturen zwischen Europa und Amerika deutlicher machen.

Erstens weil die USA, wie es der englische Kriminalautor Gilbert Keith Chesterton formulierte, eine „Nation mit der Seele einer Kirche“ ist. Die theokratische Gründungsideologie des puritanischen Protestantismus stand dem Alten Testament näher. Vereinfacht kann man sagen, dass die USA stärker vom Alten Testament und seinem lex talionis geprägt wurden, die europäischen mehr vom Neuen Testament – eine unterschiedliche Grundhaltung, die sich bis in die Gestaltung der Außenpolitik nachweisen lässt. Dies mag auch eine gewisse Symbiose der amerikanischen Christen mit Israel unter dem Motto der „Judaeo-Christian tradition“ erklären, ein brüderlicher Schulterschluss, der den Islam außen vor lässt. Diese Wahlverwandtschaft verführt zur Konstruktion eines tiefen Grabens zwischen den Welten beziehungsweise eines Kampfes der Kulturen.

Zweitens: Schuld und Schuldfähigkeit wird in den USA in der Regel beim Individuum gesucht, nicht so sehr in den gesellschaftlichen Umständen und noch weniger in einer wirtschaftlichen Randständigkeit der Täter. Da alle Freiheitsrechte im Individuum verankert sind, wird dieses auch stärker in die Verantwortung genommen, nach Maßgabe des alten puritanischen Spruchs: „Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel verlangt.“ Dies mag erklären, warum man selbst die Gefahr eines global verbreiteten, inzwischen kollektiven Extremismus am liebsten auf eine Person, also Ussama Bin Laden, reduziert hätte, und damit das Übel personifizierbar und figurierbar macht. Dabei sollte jedem klar sein, dass auch die Eliminierung von Bin Laden das Problem des Extremismus kaum lösen wird. Auch das Wort vom Schurkenstaat transportiert eine latente Personifizierung.

Drittens geht diese populäre, basisdemokratische Theologie des Individuums von einer manichäischen Einteilung zwischen Recht und Unrecht oder Gut und Böse aus. Amerikaner lieben sogenannte „killer-oppositions“: gute christliche Demokratie – böser islamischer Schurkenstaat, unschuldig oder schuldig. Es gibt in dieser Vorstellung zwischen Gut und Böse kaum einen moralisch-mittleren Grund. Auf Stoßstangen der Patrioten steht daher: America love it or leave it. Außenpolitisch kam diese zwanghafte Vorstellung in dem vielzitierten Aufsatz von Samuel Huntington zum Ausdruck, dessen Denkfigur eines „clash of civilizations“ durch die Geschehnisse in New York den Charakter einer self-fulfilling prophecy erhalten hat, an deren Bestätigung auch die islamischen Extremisten nur zu gerne mitarbeiten. Zudem ist diese Denkfigur für den neuen Soundbyte-Journalismus ideal. Denn solches „Übel“ lässt sich medial am besten mit tanzenden Palästinenserkindern, die vom Leid der Amerikaner ihre orientalische Energie schöpfen, dramatisch inszenieren. Der Sender Pro7 hat diese Bilder sicher 20 Mal gesendet und sich jede Analyse dieser Situation durch den Orientalisten Prof. El-Aouni (FU-Berlin) verbeten.

Viertens kommt in solchen Krisenmomenten die Tradition der populistischen Graswurzeldemokratie zum Tragen. Man könnte polemisch sagen: Amerika ist populärdemokratischer als Europa – und zwar in dem Sinne, dass der populistische Volkswille energischer in politische Praxis und in die Wahl politischer Ämter umgesetzt werden als bei uns. Wenn also 85 Prozent der Amerikaner nach Rache rufen, kann Bush diesen Wählerauftrag nicht ignorieren. Was die Todesstrafe betrifft, ist es wichtig, dass die Entscheidung darüber in der Verfügung der Einzelstaaten liegt, also eine Funktion der Regionalpolitik bleibt. Es gibt in bestimmten Regionen Amerikas eine Mehrheit für die Todesstrafe und damit für Rache, und diese Mehrheit scheint in den letzten 20 Jahren, vor allem seit dem 11. September, gewachsen zu sein. Also konnten es sich Kandidaten für den Gouverneursposten selbst in einem liberalen Staate wie New York nicht mehr leisten, ein Veto gegen die Todesstrafe einzulegen. Cuomo hatte das mehrfach getan und dann prompt die Wiederwahl gegen Pataki verloren. Allerdings: Wenn es in Deutschland ein Referendum gäbe, ob man Kinderschänder aufhängen sollte, gäbe es möglicherweise auch eine Stammtischmehrheit, die aber in unserem bestehenden politischen und juristischen System nicht umsetzbar wäre. Deutschland ist maßgeblich vom Trauma des staatlichen Verbrechens gegen die Menschenwürde durch den Nationalsozialismus geprägt und hat seine politischen Institutionen daher stärker gegen Todesstrafe und auch gegen Rachegedanken immunisiert. Amerikanische Patrioten haben dieses Trauma nicht, sondern glauben zur Verteidigung des amerikanischen „Paradieses“ selbst extreme Maßnahmen ergreifen zu müssen.

Fünftens hat seit Reagan ein religiös und fundamentalistisch motivierter Rechtsruck stattgefunden. Man kann von einer Versüdstaatlichung des Rechtsempfindens und daher als Konsequenz von einer fundamentalistischen Politisierung der Justiz sprechen. Dahinter steckt ein Sieg der neuen christlichen Rechten beim Marsch durch die Institutionen, der in den Siebzigerjahren unter Nixon begann und mit großem Erfolg vor allem in den Südstaaten vervollständigt werden konnte. Die Wahl von Bush junior bestätigt einen Trend, der auch nicht vom Südstaatler Clinton durchbrochen wurde. Auch Clinton konnte es sich nicht leisten, den Volkswillen zu ignorieren. Er hat das Todesurteil eines geistig Behinderten unterzeichnet. Dieses fundamentalisierte, manichäische Rechtsdenken hat auch den politischen Handlungsrahmen eingeengt, den alttestamentarischen Rachegedanken gestärkt und diesem ein zivilreligiöses Unterfutter gegeben.

Sechstens sind das amerikanische Rechtssystem und das der globalen Politik in einer Krise. Das Rechtssystem ist in einer technisch-prozeduralen „Win or lose“-Ideologie erstarrt, wobei die Verurteilung mehr von der Beherrschung dieses Prozeduralismus und einem sozialdarwinistischen Heimvorteil in der Beschaffung juristischen Beistands abhängig ist als von der Schuldfrage (vgl. O. J. Simpson). Richard A. Posner schreibt in „How American justice has failed“ (Times Literary Supplement, 26. 2. 1999): „Es lohnt sich also für Schuldige reich zu sein“, und er meint, dass eine schuldige, aber reiche Person vor einem amerikanischen Gericht eher mit einem Freispruch und dass ein schuldiger Armer vor einem europäischen Gericht eher mit Milde rechnen kann. Diese „Win or lose“-Ideologie, die für das Rechtsempfinden prägend ist, stellt leider auch den Resonanzboden der politischen Entscheidungsprozesse dar. Im Bereich der global policy stecken die USA daher in einer ähnlichen Krise.

Zur Zeit des Kalten Krieges konnte sich die amerikanische Politik im System der Killeroppositionen blendend entfalten. Wir erinnern uns an Reagans Wort vom evil empire. In einer unipolaren, globalisierenden Welt wird es schwerer fallen, einen oder mehrere Feinde nach altem Schema klar im Visier auszumachen, es sei denn, man konstruiert sich einen.

Zusammen zeigen diese sechs Faktoren ihre anhaltende juristische und politische Wirkung, obwohl der achte Zusatz zur Verfassung seit 1791 eine „grausame und ungewöhnliche Bestrafung“ verbietet. Hierzu gab es 1972 eine Entscheidung des obersten Verfassungsgerichts, das eine gewisse Willkür in der Handhabung der Todesstrafe bemängelte, die aber von den Einzelstaaten korrigiert wurde. Daher gibt es seit 1977 wieder die Vollstreckung der Todesstrafe – und das obwohl feststeht, dass sie so gut wie keine abschreckende Funktion hat. Mit einer Inhaftierungsquote von 650 Häftlingen auf 100.000 Einwohner (im Gegensatz zur deutschen Quote von 85 auf100.000) sind die amerikanischen Gefängnisse so voll, dass viele Staaten sich gezwungen sehen, ein Outsourcing des Strafvollzugs in den privaten Sektor vorzunehmen. Islamische Extremisten, so sie dingfest gemacht werden, was zu hoffen ist, können wie Timothy McVeigh mit der vollen Härte des amerikanischen Rechtssystems rechnen. Auch das passt ins Bild: Sie wollten so oder so Märtyrer werden. Die Politik des globalen Hegemons USA sollte sich jedoch andere Lösungen suchen und versuchen, den strukturellen Ursachen des Extremismus auf den Grund zu gehen und diese zusammen mit den Nato-Verbündeten zu beseitigen.