Klumpen im Diskurs

Durch das Hinzufügen von Farbe auf die sehr reale Beliebigkeit von Zuschreibungen verweisen: Der New Yorker Künstler Glenn Ligon und seine „Portraits and Not Portraits“ im Kunstverein München

von JENS KASTNER

Es gibt Zeichen, die beschreiben selbst heute noch eindeutig einen Gegenstand. Ausstellungsplakate zum Beispiel sprechen, wenn sie gut gemacht sind, nur über den Inhalt der angekündigten Sache und verweisen, ohne diesen Hinweis zu tangieren, noch auf Ort und Anlass der Schau. Eine Umrisszeichnung von Malcolm X, der 1965 ermordeten Ikone schwarzer Emanzipationsbestrebungen und -bewegungen, kündigt den New Yorker Künstler Glenn Ligon an – und scheint bereits alles zu sagen: Hier geht es um Identität, und warum sie nicht mehr ohne Weiteres zu formulieren ist. Es geht um Minderheitenpolitik, insbesondere um schwarze, und ihre Ausdrucksweisen in der zeitgenössischen Kunst.

Unter der Zeichnung aber befinden sich die beiden Worte „Add color“. Mit der Aufforderung, Farbe hinzuzufügen, nimmt Ligon dem Idol symbolisch sein Wesen und verweist somit auf eine reale Beliebigkeit der Zuschreibung. An dieser arbiträren Festlegung auf die Farbe aber hingen – und hängen vielleicht noch vereinzelt – Hoffnungen. Die Blätter, auf denen Kinder aus verschiedenen Milieus und Altersklassen der Anweisung gefolgt sind, stammen aus Malbüchern der Jahre 1967 bis 1975, enthalten neben Malcolm auch noch andere Motive und Vorbilder schwarzer Befreiung und sind von Ligon initiierte Übermalungen einer euphorischen 68er-Pädagogik. Mit Erziehungsansprüchen bricht er in den ausgestellten Werken nicht nur im Inhalt, sondern auch formal. Die farbigen Ausmalungen sind die ersten Farbbilder des 1960 geborenen Künstlers, der seit seinem Abschied von der abstrakten Malerei mit verschiedenen Medien experimentiert. Der Kunstverein München zeigt eine überzeugende Auswahl der verschiedenen Versuche Ligons, bei denen er die Funktionen der Mittel für den Transport der Zwecke austestet. Es sind insofern nicht nur Ausdrucksschwierigkeiten von bestimmten Leuten in gewissen sozialen und historischen Situationen, die hier thematisiert werden. Die gesellschaftlichen Verständigungsprobleme sind stets gekoppelt an kunstimmanente Schwierigkeiten: Ligon verwendet großformatige Schwarzweißsiebdrucke sowohl für stilisierte Selbstporträts in Art von Fahndungsfotos als auch für kaum kenntliche Ausschnitte aus Demofotos des „One Million Man March“, des von der Nation of Islam organisierten und Frauen ausschließenden Großevents in Washington D. C. 1995. Die mit Andy Warhol assoziierte 60er-Jahre-Technik kommt so zum Einsatz, um 90er-Jahre-Realitäten doppelt zu brechen – durch ihre und in ihrer Darstellung. Das gedruckte Wort ist ein anderes Medium, in dem Ligon operiert. Die von Jenny Holzer bekannte Aufdringlichkeit der geschriebenen Sprache im Bild wird aber zugunsten des Gegenstandes zurückgefahren, der bedrängend genug ist. In zehn Lithografien („Runaways“, 1993) hat Ligon die von Freunden verfassten Beschreibungen seiner Person in die Form der im 19. Jahrhundert üblichen Steckbriefe für entlaufene Sklaven gebracht. Die akkurate Arbeit am geschichtlich erledigten Rahmen drängt diesem doch eine Aktualität auf, die sich in so mancher Identitätstheorie bereits im Spielerischen verflüchtigt zu haben scheint. Ligon führt damit vor Augen, wie sehr künstlerische Infragestellung und soziale Auflösung ineinander wirken – gerade bei so kontinuierlichen, kohärenten und relativ autonomen Klumpen im Diskurs, der über Identitäten geführt wird.

So wie das Ankündigungsplakat doch nicht alles verrät, was es zu versprechen scheint, schickt die Karte zur Eröffnung eine weitere Leerstelle voraus, genauer gesagt zwei: In Deutschland bedarf es trotz Afrob und Asamoah immer noch ab und zu eines homosexuellen schwarzen Künstlers aus der Bronx, um die Auslassungen aufzuzeigen, die laut Cultural-Studies-Theoretiker Stuart Hall dem „Westen“ (als Moderne) konstitutiv sind: Schwarze und insbesondere schwarze Frauen. Auf einem Foto in Schwarzweiß ist eine Häuserwand zu sehen, an ihr Graffiti, und unter dem Einbahnstraßenschild rechts oben die Bezeichnung: „Schwarzmannstr.“

Bis 7. 10., Kunstverein München. Info unter www.kunstverein-munchen.de