Der Laborkittel der Fotografie

Kaffeekannen, Waschmaschinen, Fertiggerichte – damit lehrt das Fotomagazin Ohio den Betrachter das Sehen

20 oder 30 schwarze und weiße Kaffeemaschinen stehen da und brühen Kaffee. Feuchtes Kaffeepulver klebt an Plastik und man fragt sich, was hier eigentlich zu sehen ist: Testdokumentationen aus dem Archiv der Stiftung Warentest? Die neueste Ausgabe des Fotomagazins Ohio? Tatsächlich sieht man beides zugleich.

Zunächst sind es einfach Bilder – bewegte diesmal –, die Ohio da auf einer 30-minütigen Videokassette versammelt. Und ja, diese 21 Sequenzen stammen aus dem Videoarchiv der Stiftung Warentest. Aber diese Zuschreibungen helfen dem Betrachter nicht wesentlich weiter. Warum, zeigt eine der schönsten Sequenzen der neuen Ohio-Ausgabe: Ein Warentester schneidet da den Aluminiumdeckel von einem Fertiggericht. Er tut dies sehr langsam und sehr genau, als sei jeder Handgriff Vollzug eines Rituals. Die Bilder sind mit solch ungeheurer Bedeutung aufgeladen, dass man sehr schnell vergisst, was in dieser Packung sein soll und warum sie eigentlich so langsam aufgeschnitten werden muss. Der weiße Ärmel des Laborkittels im Bild verspricht Bedeutung und scheint sie zugleich qua seiner Autorität der Weißheit einzulösen.

Die Laborkittel der Fotografie sind gewissermaßen Bildunterschriften und Bildkontexte: Sie wollen für uns sehen. Aber nicht bei Ohio, das konsequent auf jede Kommentierung der Bilder verzichtet. Uschi Huber und Jörg Paul Janka, die das Magazin seit gut sechs Jahren herausgeben, wollen Kunst-, Presse-, Dokumentar-, Amateurfotografien als Bilder betrachten, nicht als Ausprägungen einer Bildergattung. So hat Ohio zu Beispiel schon Fotografien zu Schadensmeldungen aus den Archiven einer Versicherung gezeigt. Wie ist so etwas zu sehen – als Dokumentation, als Amateurknipserei, als ein neues Genre namens Schadensfotografie?

Letztlich wohl als Bilder mit ihrer jeweils eigenen Erzählung und Ästhetik. Denn Fotografien werden erst durch das Benennen als privat, amateurhaft, echt oder künstlerisch ebendies. Oder sie scheinen es zu werden. Denn wer erst den Text liest und dann Bilder anschaut, sieht sie meist nicht. Schon in den Anfangsjahren der Fotografie war das ein Problem. Im 19. Jahrhundert war die Fotografie das Medium, welches den innigsten Wunsch des Bürgertums befriedigte: naturgetreue Wiedergabe der Realität. Die Dokumentarfotografie entstand und fortan wurde jedes Bild als Wiedergabe eines Zustands statt eines möglichen Blicks auf einen solchen gelesen. Carleton Eugene Watkins fotografierte die Sierra Nevada als Naturparadies. Infolge seiner Aufnahmen wurde sie schließlich wirklich zum Naturschutzgebiet erklärt.

Was war hier Ursache, was Wirkung? Für die bürgerlichen Betrachter von Watkins’ Fotografien war in ihrer urbanen Lebenswelt die Natur eben nicht mehr der natürliche Zustand. Sie musste also wiedererschaffen werden. Deshalb wurden Watkins’ Fotografien nicht als Dokumentation einer Sehsucht, sondern als Abbilder des Objekts jener Begierde verstanden. Natur wurde kreiert und die Beschaffenheit der Sierra Nevada musste nur noch dieser Lesart der Fotografie folgen.

Manchmal produzieren Bilder ein Gut, das in der Lebenswelt gar nicht mehr existiert. Dokumentarische Fotografie ist deshalb eigentlich ein leerer Begriff, der das Sehen dogmatisiert. Das US-Landwirtschaftsministerium zum Beispiel behauptete zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise, die wirklichen Zustände auf dem Land seien auf den Bildern Walker Evans’ zu sehen, für die man Evans beauftragt hatte. Die Fotografien sollten wohl deshalb nicht nur als ein Blick auf etwas verstanden werden.

Wie Ohio solch gefährliche Zuschreibungen dekonstruiert, beschreibt Uschi Huber anhand eines Fotos aus dem zweiten Heft. In dieser Ausgabe lacht ein Politiker offiziell. Das Porträt soll einen netten Menschen beim Nettsein dokumentieren. Allein für sich genommen, ist jedoch das Bild als fieses Grinsen lesbar, als Dokumentation einer Möglichkeit.

Ohio erlaubt verschiedene Blicke, allerdings schafft die Zeitschrift dabei natürlich selbst einen Kontext. Denn auch wenn Ohio nicht sagt, was zu sehen ist, wird doch alles im Kontext eines Fotografiemagazins gesehen. Doch das ist nicht weiter schlimm. Denn letzten Endes erzählt das Magazin genau wie die Bilder darin von einer Sehnsucht, der Sehnsucht nach dem Sehen. KONRAD LISCHKA

Seit der siebten Ausgabe erscheint Ohio als VHS-Kassette. Ohio Nr. 9. 30 Minuten, PAL, 24 DM zzgl. 5 DM Versand. Erhältlich u. a. bei Buchhandlung Walther König, Köln, Fax (02 21) 2 05 96-40, Fon (02 21) 2 05 96-0, und beim Ohio Verlag, Fax (02 21) 1 30 04 08, E-Mail: uschicob@aol.com